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versuchen? Der Zuspruch meiner Kameraden, die mehr an mich glaubten als
ich selbst, entschied. Ich sandte das Manuskript verwegen genug gerade an
jenen Verlag, der damals der repräsentative für deutsche Lyrik war, Schuster
& Löffler, die Verleger Liliencrons, Dehmels, Bierbaums, Momberts, jener
ganzen Generation, die zugleich mit Rilke und Hofmannsthal die neue
deutsche Lyrik geschaffen. Und – Wunder und Zeichen! – es kamen einer
nach dem andern jene unvergeßlichen Glücksaugenblicke, wie sie sich im
Leben eines Schriftstellers auch nach den größten Erfolgen nicht mehr
wiederholen: es kam ein Brief mit dem Signet des Verlags, den man unruhig
in Händen hielt, ohne den Mut, ihn zu öffnen. Es kam die Sekunde, wo man
angehaltenen Atems las, daß der Verlag sich entschlossen habe, das Buch zu
veröffentlichen und sich sogar das Vorrecht für die folgenden ausbedinge. Es
kam das Paket mit den ersten Korrekturen, das man mit maßloser Erregung
aufschnürte, um die Type zu sehen, den Satzspiegel, die embryonale Gestalt
des Buchs, und dann nach wenigen Wochen das Buch selbst, die ersten
Exemplare, die man nicht müde wurde zu beschauen, zu betasten, zu
vergleichen, einmal und noch einmal und noch einmal. Und dann die
kindische Wanderung zu den Buchläden, ob sie schon Exemplare in der
Auslage hätten und ob sie in der Mitte des Ladens prangten oder bescheiden
am Rande sich versteckten. Und dann das Warten auf die Briefe, auf die
ersten Kritiken, auf die erste Antwort aus dem Unbekannten, dem
Unberechenbaren – alle diese Spannungen, Erregungen, Begeisterungen, um
die ich jeden jungen Menschen heimlich beneide, der sein erstes Buch in die
Welt wirft. Aber dies mein Entzücken war nur eine Verliebtheit in den ersten
Augenblick und keineswegs Selbstgefälligkeit. Wie ich bald selbst über diese
frühen Verse dachte, ist durch die einfache Tatsache bezeugt, daß ich nicht
nur diese ›Silbernen Saiten‹ (dies der Titel jenes verschollenen Erstlings) nie
mehr neu drucken, sondern kein einziges Gedicht daraus in meine
›Gesammelten Gedichte‹ aufnehmen ließ. Es waren Verse unbestimmter
Vorahnung und unbewußten Nachfühlens, nicht aus eigenem Erlebnis
entstanden, sondern aus sprachlicher Leidenschaft. Immerhin zeigten sie eine
gewisse Musikalität und genug Formgefühl, um sie interessierten Kreisen
bemerkbar zu machen, und ich konnte mich über mangelnde Aufmunterung
nicht beklagen. Liliencron und Dehmel, die damals führenden lyrischen
Dichter, gaben dem Neunzehnjährigen herzliche und schon
kameradschaftliche Anerkennung, Rilke, der so sehr von mir Vergötterte,
sandte mir als Gegengabe für das ›so schön gegebene Buch‹ einen ›dankbar‹
gewidmeten Sonderdruck seiner jüngsten Gedichte, den ich als eine der
kostbarsten Erinnerungen meiner Jugend aus den Trümmern Österreichs noch
nach England herübergerettet habe (wo mag er heute sein?). Gespenstisch
freilich mutete es mich zuletzt an, daß diese erste freundschaftliche Gabe
Rilkes an mich – die erste von vielen – vierzig Jahre alt war und die vertraute
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286