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der Jugend, geachtet von unseren Vätern, bis eines Tages das Unerwartete
geschah. Das Schicksal weiß immer sich einen Weg zu finden, um den
Menschen, den es braucht für seine geheimen Zwecke, heranzuholen, auch
wenn er sich verbergen will.
Theodor Herzl hatte in Paris ein Erlebnis gehabt, das ihm die Seele
erschütterte, eine jener Stunden, die eine ganze Existenz verändern: er hatte
als Korrespondent der öffentlichen Degradierung Alfred Dreyfus’
beigewohnt, hatte gesehen, wie man dem bleichen Mann die Epauletten abriß,
während er laut ausrief: »Ich bin unschuldig.« Und er hatte bis ins innerste
Herz gewußt in dieser Sekunde, daß Dreyfus unschuldig war und daß er
diesen grauenhaften Verdacht des Verrats einzig auf sich geladen dadurch, daß
er Jude war. Nun hatte Theodor Herzl in seinem aufrechten männlichen Stolz
schon als Student unter dem jüdischen Schicksal gelitten – vielmehr, er hatte
es in seiner ganzen Tragik schon vorausgelitten zu einer Zeit, da es kaum ein
ernstliches Schicksal zu sein schien, dank seines prophetischen Instinkts der
Ahnung. Mit dem Gefühl, zum Führer geboren zu sein, wozu ihn seine
prachtvoll imposante äußere Erscheinung nicht minder als die Großzügigkeit
seines Denkens und seine Weltkenntnis berechtigte, hatte er damals den
phantastischen Plan gefaßt, dem jüdischen Problem ein für allemal ein Ende
zu bereiten, und zwar durch Vereinigung des Judentums mit dem Christentum
auf dem Wege freiwilliger Massentaufe. Immer dramatisch denkend, hatte er
sich ausgemalt, wie er in langem Zuge die Tausende und Abertausende der
Juden Österreichs zur Stefanskirche führen würde, um dort in einem
vorbildlich symbolischen Akt das gejagte, heimatlose Volk für immer vom
Fluch der Absonderung und des Hasses zu erlösen. Bald hatte er das
Unausführbare dieses Plans erkannt, Jahre eigener Arbeit hatten ihn vom
Urproblem seines Lebens, das zu ›lösen‹ er als seine wahre Aufgabe
erkannte, abgelenkt; jetzt aber, in dieser Sekunde der Degradierung Dreyfus’,
fuhr der Gedanke der ewigen Ächtung seines Volkes wie ein Dolch ihm in die
Brust. Wenn Absonderung unvermeidlich ist, sagte er sich, dann eine
vollkommene! Wenn Erniedrigung unser Schicksal immer wieder wird, dann
ihm begegnen durch Stolz. Wenn wir leiden an unserer Heimatlosigkeit, dann
eine Heimat uns selbst aufbauen! So veröffentlichte er seine Broschüre ›Der
Judenstaat‹, in der er proklamierte, alle assimilatorische Angleichung, alle
Hoffnung auf totale Toleranz sei für das jüdische Volk unmöglich. Es müsse
eine neue, eine eigene Heimat gründen in seiner alten Heimat Palästina.
Ich saß, als diese knappe, aber mit der Durchschlagskraft eines stählernen
Bolzens versehene Broschüre erschien, noch im Gymnasium, kann mich aber
der allgemeinen Verblüffung und Verärgerung der Wiener bürgerlich-
jüdischen Kreise wohl erinnern. Was ist, sagten sie unwirsch, in diesen sonst
so gescheiten, witzigen und kultivierten Schriftsteller gefahren? Was treibt
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286