Web-Books
in the Austria-Forum
Austria-Forum
Web-Books
Biographien
Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Page - 83 -
  • User
  • Version
    • full version
    • text only version
  • Language
    • Deutsch - German
    • English

Page - 83 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Image of the Page - 83 -

Image of the Page - 83 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Text of the Page - 83 -

Sprachen gegeneinander eifernd und alle unwillig, sich einer einheitlichen Autorität zu fügen. In jenem Jahr 1901, da ich ihn zum ersten Male sah, stand er mitten im Kampf und war vielleicht auch mit sich selbst im Kampf; noch glaubte er dem Gelingen nicht genug, um die Stellung, die ihn und seine Familie ernährte, aufzugeben. Noch mußte er sich teilen in den kleinen journalistischen Dienst und die Aufgabe, die sein wahres Leben war. Noch war es der Feuilletonredakteur Theodor Herzl, der mich damals empfing. Theodor Herzl erhob sich, um mich zu begrüßen, und unwillkürlich empfand ich, daß das höhnisch gemeinte Witzwort ›der König von Zion‹ etwas Wahres traf: er sah wirklich königlich aus mit seiner hohen, freien Stirne, seinen klaren Zügen, seinem langen, fast bläulich-schwarzen Priesterbart und seinen tiefblauen, melancholischen Augen. Die weiten, etwas theatralischen Gesten wirkten bei ihm nicht erkünstelt, weil sie durch eine natürliche Hoheit bedingt waren, und es hätte nicht dieser besonderen Gelegenheit bedurft, um ihn mir imposant erscheinen zu lassen. Selbst vor dem abgenutzten, mit Papier überhäuften Schreibtisch in dieser kläglich engen, einfenstrigen Redaktionsstube wirkte er wie ein beduinischer Wüstenscheich; ein wallender weißer Burnus hätte ihn ebenso natürlich gekleidet wie sein sorgfältig geschnittener, sichtlich nach Pariser Muster gehaltener schwarzer Cutaway. Nach einer kurzen, absichtlich eingeschalteten Pause – er liebte diese kleinen Effekte, wie ich später oft bemerkte, und hatte sie wohl im Burgtheater studiert – reichte er mir herablassend und doch durchaus gütig die Hand. Auf den Sessel neben sich weisend, fragte er: »Ich glaube, ich habe Ihren Namen schon irgendwo gehört oder gelesen. Gedichte, nicht wahr?« Ich mußte zustimmen. »Nun«, lehnte er sich zurück. »Was bringen Sie mir?« Ich berichtete, daß ich ihm gerne eine kleine Prosaarbeit vorgelegt hätte, und überreichte ihm das Manuskript. Er sah das Titelblatt an, schlug über bis zur letzten Seite, um den Umfang zu messen, lehnte sich dann noch tiefer in den Sessel zurück. Und zu meinem Erstaunen (ich hatte es nicht erwartet) bemerkte ich, daß er bereits das Manuskript zu lesen begonnen hatte. Er las langsam, immer ein Blatt zurücklegend, ohne aufzublicken. Als er das letzte Blatt gelesen hatte, faltete er langsam das Manuskript zusammen, tat es umständlich und noch immer ohne mich anzusehen in ein Couvert und schrieb mit Blaustift einen Vermerk darauf. Dann erst, nachdem er mich mit diesen geheimnisvollen Machinationen genügend lang in Spannung gehalten, hob er den schweren, dunklen Blick zu mir auf und sagte mit bewußter, langsamer Feierlichkeit: »Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß Ihre schöne Arbeit für das Feuilleton der ›Neuen Freien Presse‹ angenommen ist.« 83
back to the  book Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers"
Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
Web-Books
Library
Privacy
Imprint
Austria-Forum
Austria-Forum
Web-Books
Die Welt von Gestern