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Sprachen gegeneinander eifernd und alle unwillig, sich einer einheitlichen
Autorität zu fügen. In jenem Jahr 1901, da ich ihn zum ersten Male sah, stand
er mitten im Kampf und war vielleicht auch mit sich selbst im Kampf; noch
glaubte er dem Gelingen nicht genug, um die Stellung, die ihn und seine
Familie ernährte, aufzugeben. Noch mußte er sich teilen in den kleinen
journalistischen Dienst und die Aufgabe, die sein wahres Leben war. Noch
war es der Feuilletonredakteur Theodor Herzl, der mich damals empfing.
Theodor Herzl erhob sich, um mich zu begrüßen, und unwillkürlich
empfand ich, daß das höhnisch gemeinte Witzwort ›der König von Zion‹
etwas Wahres traf: er sah wirklich königlich aus mit seiner hohen, freien
Stirne, seinen klaren Zügen, seinem langen, fast bläulich-schwarzen
Priesterbart und seinen tiefblauen, melancholischen Augen. Die weiten, etwas
theatralischen Gesten wirkten bei ihm nicht erkünstelt, weil sie durch eine
natürliche Hoheit bedingt waren, und es hätte nicht dieser besonderen
Gelegenheit bedurft, um ihn mir imposant erscheinen zu lassen. Selbst vor
dem abgenutzten, mit Papier überhäuften Schreibtisch in dieser kläglich
engen, einfenstrigen Redaktionsstube wirkte er wie ein beduinischer
Wüstenscheich; ein wallender weißer Burnus hätte ihn ebenso natürlich
gekleidet wie sein sorgfältig geschnittener, sichtlich nach Pariser Muster
gehaltener schwarzer Cutaway. Nach einer kurzen, absichtlich eingeschalteten
Pause – er liebte diese kleinen Effekte, wie ich später oft bemerkte, und hatte
sie wohl im Burgtheater studiert – reichte er mir herablassend und doch
durchaus gütig die Hand. Auf den Sessel neben sich weisend, fragte er: »Ich
glaube, ich habe Ihren Namen schon irgendwo gehört oder gelesen. Gedichte,
nicht wahr?« Ich mußte zustimmen. »Nun«, lehnte er sich zurück. »Was
bringen Sie mir?«
Ich berichtete, daß ich ihm gerne eine kleine Prosaarbeit vorgelegt hätte,
und überreichte ihm das Manuskript. Er sah das Titelblatt an, schlug über bis
zur letzten Seite, um den Umfang zu messen, lehnte sich dann noch tiefer in
den Sessel zurück. Und zu meinem Erstaunen (ich hatte es nicht erwartet)
bemerkte ich, daß er bereits das Manuskript zu lesen begonnen hatte. Er las
langsam, immer ein Blatt zurücklegend, ohne aufzublicken. Als er das letzte
Blatt gelesen hatte, faltete er langsam das Manuskript zusammen, tat es
umständlich und noch immer ohne mich anzusehen in ein Couvert und
schrieb mit Blaustift einen Vermerk darauf. Dann erst, nachdem er mich mit
diesen geheimnisvollen Machinationen genügend lang in Spannung gehalten,
hob er den schweren, dunklen Blick zu mir auf und sagte mit bewußter,
langsamer Feierlichkeit: »Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß Ihre
schöne Arbeit für das Feuilleton der ›Neuen Freien Presse‹ angenommen ist.«
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286