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allen Reichen und Ländern, Menschen gefahren, westliche, östliche,
russische, türkische Juden, aus allen Provinzen und kleinen Städten stürmten
sie plötzlich herbei, den Schreck der Nachricht noch im Gesicht; niemals
spürte man deutlicher, was früher das Gestreite und Gerede unsichtbar
gemacht, daß es der Führer einer großen Bewegung war, der hier zu Grabe
getragen wurde. Es war ein endloser Zug. Mit einemmal merkte Wien, daß
hier nicht nur ein Schriftsteller oder mittlerer Dichter gestorben war, sondern
einer jener Gestalter von Ideen, wie sie in einem Land, in einem Volk nur in
ungeheuren Intervallen sich sieghaft erheben. Am Friedhof entstand ein
Tumult; zu viele strömten plötzlich zu seinem Sarg, weinend, heulend,
schreiend in einer wild explodierenden Verzweiflung, es wurde ein Toben, ein
Wüten fast; alle Ordnung war zerbrochen durch eine Art elementarer und
ekstatischer Trauer, wie ich sie niemals vordem und nachher bei einem
Begräbnis gesehen. Und an diesem ungeheuren, aus der Tiefe eines ganzen
Millionenvolkes stoßhaft aufstürmenden Schmerz konnte ich zum erstenmal
ermessen, wieviel Leidenschaft und Hoffnung dieser einzelne und einsame
Mensch durch die Gewalt seines Gedankens in die Welt geworfen.
Die eigentliche Bedeutung meines feierlichen Einlasses in das Feuilleton
der ›Neuen Freien Presse‹ wirkte sich für mich im Privaten aus. Ich gewann
dadurch eine unerwartete Sicherheit gegenüber meiner Familie. Meine Eltern
befaßten sich wenig mit Literatur und maßten sich keinerlei Urteil an; für sie,
wie für die ganze Wiener Bourgeoisie, war bedeutend, was in der ›Neuen
Freien Presse‹ gelobt wurde, und gleichgültig, was dort ignoriert oder getadelt
wurde. Was im ›Feuilleton‹ geschrieben stand, schien für sie durch höchste
Autorität verbürgt, denn wer dort urteilte und richtete, forderte schon durch
die bloße Position Respekt heraus. Und nun denke man sich eine solche
Familie aus, die mit Ehrfurcht und Erwartung ihren Blick täglich auf dieses
eine erste Blatt ihrer Zeitung richtet und eines Morgens unglaubhafterweise
entdeckt, daß der ziemlich unordentliche Neunzehnjährige, der an ihrem
Tisch sitzt, der in der Schule keineswegs exzelliert, und dessen Geschreibe sie
mit Wohlwollen als ›ungefährliche‹ Spielereien hingenommen (besser
immerhin alsKartenspiel oder Flirt mit leichtfertigen Mädchen), an dieser
verantwortungsreichen Stelle zwischen den berühmten und erfahrenen
Männern das Wort ergreifen durfte für seine (zu Hause bisher nicht sehr
geachteten) Meinungen. Hätte ich die schönsten Gedichte Keats’, Hölderlins
oder Shelleys geschrieben, so würde dies nicht eine so völlige Umstellung im
ganzen Umkreis bewirkt haben; wenn ich ins Theater kam, zeigte man sich
diesen rätselhaften Benjamin, der auf mysteriöse Weise in das heilige Gehege
der Alten und Würdigen eingedrungen war. Und da ich öfters und beinahe
regelmäßig in dem Feuilleton publizierte, geriet ich bald in Gefahr, eine
angesehene lokale Respektsperson zu werden; dieser Gefahr entzog ich mich
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286