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unter dem Protektorat Kaiser Wilhelms, das Theater fand in Otto Brahm einen
vorbildlichen Leiter, und gerade, daß keine richtige Tradition, keine
jahrhundertealte Kultur vorhanden war, lockte die Jugend zum Versuche an.
Denn Tradition bedeutet immer auch Hemmung. Wien, an das Alte gebunden,
seine eigene Vergangenheit vergötternd, erwies sich vorsichtig und abwartend
gegen junge Menschen und verwegene Experimente. In Berlin aber, das sich
rasch und in persönlicher Form gestalten wollte, suchte man das Neue. So war
es nur natürlich, daß die jungen Menschen aus dem ganzen Reiche und sogar
aus Österreich sich nach Berlin drängten, und die Erfolge gaben den Begabten
unter ihnen recht; der Wiener Max Reinhardt hätte in Wien zwei Jahrzehnte
lang geduldig warten müssen, um die Position zu erlangen, die er in Berlin in
zwei Jahren eroberte.
Es war just in diesem Zeitpunkt des Überganges von der bloßen Hauptstadt
zur Weltstadt, daß ich in Berlin eintraf. Noch war der erste Eindruck nach der
satten und von großen Ahnen vererbten Schönheit Wiens eher enttäuschend;
der entscheidende Zug nach dem Westen, wo sich die neue Architektur statt
der etwas protzigen Tiergartenhäuser entfalten sollte, hatte eben erst
begonnen, noch bildeten die baulich öde Friedrichstraße und Leipziger Straße
mit ihrem ungeschickten Prunk das Zentrum der Stadt. Vororte wie
Wilmersdorf, Nikolassee, Steglitz waren nur mit den Trambahnen mühsam zu
erreichen, die Seen der Mark mit ihrer herben Schönheit erforderten in jener
Zeit noch eine Art Expedition. Außer den alten ›Unter den Linden‹ gab es
kein richtiges Zentrum, keinen ›Korso‹ wie bei uns am Graben, und
vollkommen fehlte dank der alten preußischen Sparsamkeit eine
durchgängige Eleganz. Die Frauen gingen in selbstgeschneiderten,
geschmacklosen Kleidern ins Theater, überall vermißte man die leichte,
geschickte und verschwenderische Hand, die in Wien wie in Paris aus einem
billigen Nichts eine bezaubernde Überflüssigkeit zu schaffen verstand. In
jeder Einzelheit fühlte man friderizianische, knickerige Haushälterischkeit;
der Kaffee war dünn und schlecht, weil an jeder Bohne gespart wurde, das
Essen lieblos, ohne Saft und Kraft. Sauberkeit und eine straffe, akkurate
Ordnung regierten allerorts statt unseres musikalischen Schwungs. Nichts war
mir zum Beispiel charakteristischer als der Gegensatz meiner Wiener und
Berliner Zimmerwirtin. Die wienerische war eine muntere, geschwätzige
Frau, die nicht alles in bester Sauberkeit hielt, dies und das leichtfertig
vergaß, aber begeistert einem jede Gefälligkeit erwies. Die Berlinerin war
korrekt und hielt alles tadellos im Stand; aber bei ihrer ersten
Monatsrechnung fand ich in sauberer, steiler Schrift jeden kleinen Dienst
berechnet, den sie erwiesen: drei Pfennige für das Annähen eines
Hosenknopfes, zwanzig Pfennige für das Beseitigen eines Tintenflecks auf
dem Tischbrett, bis schließlich nach einem kräftigen Addierstrich für ihre
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286