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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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später in Dornach das grandiose Goetheanum sah, diese ›Schule der Weisheit‹, die ihm seine Schüler als platonische Akademie der ›Anthroposophie‹ gestiftet, war ich eher enttäuscht, daß sein Einfluß so sehr in das Breit-Reale und stellenweise sogar ins Banale gegangen. Ich maße mir kein Urteil über die Anthroposophie an, denn mir ist bis heute nicht deutlich klar, was sie will und bedeutet; ich glaube sogar, daß im Wesentlichen ihre verführende Wirkung nicht an eine Idee, sondern an Rudolf Steiners faszinierende Person gebunden war. Immerhin, einem Mann solcher magnetischen Kraft gerade auf jener frühen Stufe zu begegnen, wo er noch freundschaftlich undogmatisch sich Jüngeren mitteilte, war für mich ein unschätzbarer Gewinn. An seinem phantastischen und zugleich profunden Wissen erkannte ich, daß die wahre Universalität, derer wir uns mit gymnasiastischer Überheblichkeit schon bemächtigt zu haben meinten, nicht durch flüchtiges Lesen und Diskutieren, sondern nur in jahrelanger, brennender Bemühung erarbeitet werden kann. Aber das Wesentliche lernt in jener aufnehmenden Zeit, wo Freundschaften sich leicht knüpfen und die sozialen oder politischen Unterschiede sich noch nicht verhärtet haben, ein junger Mensch eigentlich besser von den Mitstrebenden als von den Überlegenen. Wieder spürte ich – nun aber auf einer höheren und internationaleren Stufe als im Gymnasium –, wie sehr kollektiver Enthusiasmus befruchtet. Während meine Wiener Freunde fast alle aus dem Bürgertum stammten und sogar zu neun Zehnteln aus der jüdischen Bourgeoisie, wir somit uns nur duplizierten und multiplizierten mit unseren Neigungen, kamen die jungen Menschen dieser neuen Welt aus ganz gegensätzlichen Schichten, von oben, von unten, preußischer Aristokrat der eine, Hamburger Reedersohn der andere, der dritte aus westfälischem Bauerngeschlecht, ich lebte plötzlich in einem Kreise, wo es auch wirkliche Armut mit zerrissenen Kleidern und abgetretenen Schuhen gab, eine Sphäre also, die ich in Wien nie berührt. Ich saß am selben Tisch mit schweren Trinkern und Homosexuellen und Morphinisten, ich schüttelte sehr stolz – die Hand einem ziemlich bekannten und abgestraften Hochstapler (der später seine Memoiren veröffentlichte und auf diese Weise zu uns Schriftstellern kam). Alles, was ich in den realistischen Romanen kaum geglaubt hatte, schob und drängte sich in den kleinen Wirtsstuben und Cafés, in die ich eingeführt wurde, zusammen, und je schlimmer eines Menschen Ruf war, um so begehrlicher mein Interesse, seinen Träger persönlich kennenzulernen. Diese besondere Liebe oder Neugier für gefährdete Menschen hat mich übrigens mein ganzes Leben lang begleitet; selbst in den Jahren, wo es sich geziemt hätte, schon wählerischer zu werden, haben meine Freunde mich oft gescholten, mit was für amoralischen, unverläßlichen und wahrhaft kompromittierenden Leuten ich umging. Vielleicht ließ mir gerade die Sphäre 91
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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