Page - 92 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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der Solidität, aus der ich kam, und die Tatsache, daß ich selbst bis zu einem
gewissen Grade mich mit dem Komplex der ›Sicherheit‹ belastet fühlte, alle
jene faszinierend erscheinen, die mit ihrem Leben, ihrer Zeit, ihrem Geld,
ihrer Gesundheit ihrem guten Ruf verschwenderisch und beinahe verächtlich
umgingen, diese Passionierten, diese Monomanen des bloßen Existierens
ohne Ziel, und vielleicht merkt man in meinen Romanen und Novellen diese
Vorliebe für alle intensiven und unbändigen Naturen. Dazu kam noch der
Reiz des Exotischen, des Ausländischen; fast jeder von ihnen brachte meinem
Neugierdrang ein Geschenk aus fremder Welt. In dem Zeichner E. M. Lilien,
dem Sohn eines armen orthodoxen Drechslermeisters aus Drohobycz,
begegnete ich zum erstenmal einem wirklichen Ostjuden und damit einem
Judentum, das mir bisher in seiner Kraft, seinem zähen Fanatismus unbekannt
gewesen. Ein junger Russe übersetzte mir die schönsten Stellen der damals in
Deutschland noch unbekannten Brüder Karamasow, eine junge Schwedin
zeigte mir zum erstenmal Bilder von Munch; ich trieb mich um in den
Ateliers bei (allerdings schlechten) Malern, um ihre Technik zu beobachten,
ein Gläubiger führte mich in einen spiritistischen Zirkel – in tausend Formen
und Vielfältigkeiten spürte ich das Dasein und wurde nicht satt. Die Intensität,
die sich im Gymnasium nur in den bloßen Formen, im Reim und Vers und
Wort ausgelebt, warf sich jetzt gegen die Menschen; von früh bis nachts war
ich in Berlin mit immer neuen und immer anderen beisammen, begeistert,
enttäuscht, sogar geprellt von ihnen. Ich glaube, ich habe in zehn Jahren nicht
so viel geistiger Geselligkeit gefrönt wie in diesem einen knappen Semester in
Berlin, dem ersten der vollkommenen Freiheit.
Daß diese ungemeine Vielfalt der Anregung eine außerordentliche
Steigerung meiner Produktionslust bedeuten mußte, schien eigentlich logisch.
In Wirklichkeit ereignete sich genau das Gegenteil; mein von der geistigen
Exaltierung im Gymnasium zuerst steil hochgetriebenes Selbstbewußtsein
schmolz bedenklich ein. Vier Monate nach der Veröffentlichung verstand ich
nicht mehr, woher ich den Mut genommen, jenen unreifen Gedichtband
herauszugeben; ich empfand die Verse noch immer als gutes, geschicktes,
zum Teil sogar bemerkenswertes Kunsthandwerk, entstanden aus einer
ehrgeizigen Spielfreude an der Form, aber unecht in ihrer Sentimentalität.
Ebenso spürte ich seit dieser Berührung mit der Wirklichkeit bei meinen
ersten Novellen einen Geruch von parfümiertem Papier; in totaler Unkenntnis
der Realitäten geschrieben, verwerteten sie eine jeweils abgeschaute Technik
in zweiter Hand. Ein Roman, den ich bis auf das letzte Kapitel fertig nach
Berlin gebracht hatte, um meinen Verleger zu beglücken, heizte bald den
Ofen, denn mein Glaube an die Kompetenz meiner Gymnasialklasse hatte
einen harten Stoß bekommen mit diesem ersten Blick ins wirkliche Leben.
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286