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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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der Solidität, aus der ich kam, und die Tatsache, daß ich selbst bis zu einem gewissen Grade mich mit dem Komplex der ›Sicherheit‹ belastet fühlte, alle jene faszinierend erscheinen, die mit ihrem Leben, ihrer Zeit, ihrem Geld, ihrer Gesundheit ihrem guten Ruf verschwenderisch und beinahe verächtlich umgingen, diese Passionierten, diese Monomanen des bloßen Existierens ohne Ziel, und vielleicht merkt man in meinen Romanen und Novellen diese Vorliebe für alle intensiven und unbändigen Naturen. Dazu kam noch der Reiz des Exotischen, des Ausländischen; fast jeder von ihnen brachte meinem Neugierdrang ein Geschenk aus fremder Welt. In dem Zeichner E. M. Lilien, dem Sohn eines armen orthodoxen Drechslermeisters aus Drohobycz, begegnete ich zum erstenmal einem wirklichen Ostjuden und damit einem Judentum, das mir bisher in seiner Kraft, seinem zähen Fanatismus unbekannt gewesen. Ein junger Russe übersetzte mir die schönsten Stellen der damals in Deutschland noch unbekannten Brüder Karamasow, eine junge Schwedin zeigte mir zum erstenmal Bilder von Munch; ich trieb mich um in den Ateliers bei (allerdings schlechten) Malern, um ihre Technik zu beobachten, ein Gläubiger führte mich in einen spiritistischen Zirkel – in tausend Formen und Vielfältigkeiten spürte ich das Dasein und wurde nicht satt. Die Intensität, die sich im Gymnasium nur in den bloßen Formen, im Reim und Vers und Wort ausgelebt, warf sich jetzt gegen die Menschen; von früh bis nachts war ich in Berlin mit immer neuen und immer anderen beisammen, begeistert, enttäuscht, sogar geprellt von ihnen. Ich glaube, ich habe in zehn Jahren nicht so viel geistiger Geselligkeit gefrönt wie in diesem einen knappen Semester in Berlin, dem ersten der vollkommenen Freiheit. Daß diese ungemeine Vielfalt der Anregung eine außerordentliche Steigerung meiner Produktionslust bedeuten mußte, schien eigentlich logisch. In Wirklichkeit ereignete sich genau das Gegenteil; mein von der geistigen Exaltierung im Gymnasium zuerst steil hochgetriebenes Selbstbewußtsein schmolz bedenklich ein. Vier Monate nach der Veröffentlichung verstand ich nicht mehr, woher ich den Mut genommen, jenen unreifen Gedichtband herauszugeben; ich empfand die Verse noch immer als gutes, geschicktes, zum Teil sogar bemerkenswertes Kunsthandwerk, entstanden aus einer ehrgeizigen Spielfreude an der Form, aber unecht in ihrer Sentimentalität. Ebenso spürte ich seit dieser Berührung mit der Wirklichkeit bei meinen ersten Novellen einen Geruch von parfümiertem Papier; in totaler Unkenntnis der Realitäten geschrieben, verwerteten sie eine jeweils abgeschaute Technik in zweiter Hand. Ein Roman, den ich bis auf das letzte Kapitel fertig nach Berlin gebracht hatte, um meinen Verleger zu beglücken, heizte bald den Ofen, denn mein Glaube an die Kompetenz meiner Gymnasialklasse hatte einen harten Stoß bekommen mit diesem ersten Blick ins wirkliche Leben. 92
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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