Page - 93 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Mir war, als ob ich in der Schule um ein paar Jahrgänge zurückversetzt wäre.
Tatsächlich habe ich nach meinem ersten Versband eine Pause von sechs
Jahren eingeschaltet, ehe ich einen zweiten veröffentlichte, und erst nach drei
oder vier Jahren das erste Prosabuch publiziert; dem Rate Dehmels, dem ich
noch jetzt dafür dankbar bin, entsprechend, nützte ich meine Zeit, um aus
fremden Sprachen zu übersetzen, was ich noch heute für die beste
Möglichkeit für einen jungen Dichter halte, den Geist der eigenen Sprache
tiefer und schöpferischer zu begreifen. Ich übertrug die Gedichte Baudelaires,
einige von Verlaine, Keats, William Morris, ein kleines Drama von Charles
van Lerberghe, einen Roman von Camille Lemonnier, ›pour me faire la
main‹. Gerade dadurch, daß jede fremde Sprache in ihren persönlichsten
Wendungen zunächst Widerstände für die Nachdichtung schafft, fordert sie
Kräfte des Ausdrucks heraus, die ungesucht sonst nicht zum Einsatz
gelangen, und dieser Kampf, der fremden Sprache zäh das Eigenste
abzuzwingen und der eigenen Sprache ebenso plastisch einzuzwingen, hat für
mich immer eine besondere Art künstlerischer Lust bedeutet. Weil diese stille
und eigentlich unbedankte Arbeit Geduld und Ausdauer forderte, Tugenden,
die ich im Gymnasium durch Leichtigkeit und Verwegenheit überspielt,
wurde sie mir besonders lieb; denn an dieser bescheidenen Tätigkeit der
Vermittlung erlauchten Kunstguts empfand ich zum erstenmal die Sicherheit,
etwas wirklich Sinnvolles zu tun, eine Rechtfertigung meiner Existenz.
Innerlich war mir mein Weg für die nächsten Jahre jetzt klargeworden; viel
sehen, viel lernen und dann erst eigentlich beginnen! Nicht mit voreiligen
Publikationen vor die Welt treten – erst von der Welt ihr Wesentliches wissen!
Berlin mit seiner starken Beize hatte meinen Durst nur noch gemehrt. Und ich
blickte mich um, in welches Land meine Sommerreise zu tun. Meine Wahl
fiel auf Belgien. Dieses Land hatte um die Jahrhundertwende einen
ungemeinen künstlerischen Aufschwung genommen und sogar in gewissem
Sinne Frankreich an Intensität überflügelt. Khnopff, Rops in der Malerei,
Constantin Meunier und Minne in der Plastik, van der Velde im
Kunstgewerbe, Maeterlinck, Eekhoud, Lemonnier in der Dichtung, gaben ein
großartiges Maß der neuen europäischen Kraft. Vor allem aber war es Emile
Verhaeren, der mich faszinierte, weil er der Lyrik einen völlig neuen Weg
wies; ich hatte mir ihn, der in Deutschland noch völlig unbekannt war, – die
offizielle Literatur verwechselte ihn lange mit Verlaine, so wie sie Rolland mit
Rostand vertauschte – gewissermaßen privatim entdeckt. Und jemanden allein
zu lieben, heißt immer doppelt lieben.
Vielleicht ist es hier nötig, eine kleine Einschaltung zu machen. Unsere Zeit
erlebt zu rasch und zuviel, um sich ein gutes Gedächtnis zu bewahren, und ich
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286