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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Mir war, als ob ich in der Schule um ein paar Jahrgänge zurückversetzt wäre. Tatsächlich habe ich nach meinem ersten Versband eine Pause von sechs Jahren eingeschaltet, ehe ich einen zweiten veröffentlichte, und erst nach drei oder vier Jahren das erste Prosabuch publiziert; dem Rate Dehmels, dem ich noch jetzt dafür dankbar bin, entsprechend, nützte ich meine Zeit, um aus fremden Sprachen zu übersetzen, was ich noch heute für die beste Möglichkeit für einen jungen Dichter halte, den Geist der eigenen Sprache tiefer und schöpferischer zu begreifen. Ich übertrug die Gedichte Baudelaires, einige von Verlaine, Keats, William Morris, ein kleines Drama von Charles van Lerberghe, einen Roman von Camille Lemonnier, ›pour me faire la main‹. Gerade dadurch, daß jede fremde Sprache in ihren persönlichsten Wendungen zunächst Widerstände für die Nachdichtung schafft, fordert sie Kräfte des Ausdrucks heraus, die ungesucht sonst nicht zum Einsatz gelangen, und dieser Kampf, der fremden Sprache zäh das Eigenste abzuzwingen und der eigenen Sprache ebenso plastisch einzuzwingen, hat für mich immer eine besondere Art künstlerischer Lust bedeutet. Weil diese stille und eigentlich unbedankte Arbeit Geduld und Ausdauer forderte, Tugenden, die ich im Gymnasium durch Leichtigkeit und Verwegenheit überspielt, wurde sie mir besonders lieb; denn an dieser bescheidenen Tätigkeit der Vermittlung erlauchten Kunstguts empfand ich zum erstenmal die Sicherheit, etwas wirklich Sinnvolles zu tun, eine Rechtfertigung meiner Existenz. Innerlich war mir mein Weg für die nächsten Jahre jetzt klargeworden; viel sehen, viel lernen und dann erst eigentlich beginnen! Nicht mit voreiligen Publikationen vor die Welt treten – erst von der Welt ihr Wesentliches wissen! Berlin mit seiner starken Beize hatte meinen Durst nur noch gemehrt. Und ich blickte mich um, in welches Land meine Sommerreise zu tun. Meine Wahl fiel auf Belgien. Dieses Land hatte um die Jahrhundertwende einen ungemeinen künstlerischen Aufschwung genommen und sogar in gewissem Sinne Frankreich an Intensität überflügelt. Khnopff, Rops in der Malerei, Constantin Meunier und Minne in der Plastik, van der Velde im Kunstgewerbe, Maeterlinck, Eekhoud, Lemonnier in der Dichtung, gaben ein großartiges Maß der neuen europäischen Kraft. Vor allem aber war es Emile Verhaeren, der mich faszinierte, weil er der Lyrik einen völlig neuen Weg wies; ich hatte mir ihn, der in Deutschland noch völlig unbekannt war, – die offizielle Literatur verwechselte ihn lange mit Verlaine, so wie sie Rolland mit Rostand vertauschte – gewissermaßen privatim entdeckt. Und jemanden allein zu lieben, heißt immer doppelt lieben. Vielleicht ist es hier nötig, eine kleine Einschaltung zu machen. Unsere Zeit erlebt zu rasch und zuviel, um sich ein gutes Gedächtnis zu bewahren, und ich 93
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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