Page - 94 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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weiß nicht, ob der Name Emile Verhaerens noch heute etwas bedeutet.
Verhaeren hatte als erster von allen französischen Dichtern versucht, Europa
das zu geben, was Walt Whitman Amerika: das Bekenntnis zur Zeit, das
Bekenntnis zur Zukunft. Er hatte die moderne Welt zu lieben begonnen und
wollte sie für die Dichtung erobern. Während für die anderen die Maschine
das Böse, die Städte das Häßliche, die Gegenwart das Unpoetische waren,
hatte er für jede neue Erfindung, jede technische Leistung Begeisterung, und
er begeisterte sich an seiner eigenen Begeisterung, er begeisterte sich
wissentlich, um sich in dieser Leidenschaft stärker zu spüren. Aus den kleinen
Gedichten des Anfangs wurden große, strömende Hymnen. ›Admirez-vous
les uns les autres‹, war seine Parole an die Völker Europas. Der ganze
Optimismus unserer Generation, dieser in der heutigen Zeit unseres
grauenhaftesten Rückfalls längst nicht mehr verständliche Optimismus fand
bei ihm den ersten dichterischen Ausdruck, und einige seiner besten Gedichte
werden noch lange das Europa und die Menschheit bezeugen, die wir damals
erträumt.
Verhaeren kennenzulernen, war ich eigentlich nach Brüssel gekommen.
Aber Camille Lemonnier, dieser kräftige, heute zu Unrecht in Vergessenheit
geratene Dichter des ›Mâle‹, von dem ich einen Roman selbst ins Deutsche
übertragen, sagte mir bedauernd, daß Verhaeren nur selten von seinem kleinen
Dörfchen nach Brüssel komme und auch jetzt abwesend sei. Um mich für
meine Enttäuschung zu entschädigen, gab er mir Einführungen herzlichster
Art an die anderen belgischen Künstler. So sah ich den greisen Meister
Constantin Meunier, diesen heroischen Arbeiter und stärksten Bildner der
Arbeit, und nach ihm van der Stappen, dessen Name in der Kunstgeschichte
heute ziemlich verschollen ist. Aber doch, welch ein freundlicher Mann war
er, dieser kleine, pausbackige Flame, und wie herzlich empfingen sie mich
jungen Menschen, er und seine große, breite, heitere holländische Frau. Er
zeigte mir seine Werke, wir sprachen lange an diesem hellen Vormittag von
Kunst und Literatur, und die Güte dieser beiden Menschen nahm mir bald
jede Scheu. Unverhohlen sagte ich ihnen mein Bedauern, in Brüssel gerade
den zu versäumen, um dessentwillen ich eigentlich gekommen war:
Verhaeren.
Hatte ich zuviel gesagt? Hatte ich etwas Törichtes gesagt? Jedenfalls
bemerkte ich, daß sowohl van der Stappen als seine Frau leise zu lächeln
begonnen hatten und sich verstohlene Blicke zuwarfen. Ich fühlte ein
geheimes Einverständnis zwischen ihnen durch meine Worte erregt. Ich
wurde befangen und wollte Abschied nehmen, aber beide wehrten sie ab, ich
müsse zu Tisch bleiben, unbedingt. Wieder ging das seltsame Lächeln von
Augenstern zu Augenstern. Ich fühlte, daß, wenn es hier ein Geheimnis gebe,
dies ein freundliches sei, und verzichtete gern auf meine beabsichtigte Fahrt
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286