Page - 105 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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und Repräsentation vergeudet; alle diese französischen jungen Dichter lebten
wie das ganze Volk für die Freude am Leben, freilich in ihrer sublimsten
Form, der schöpferischen Freude an der Arbeit. Wie revidierten mir diese neu
gewonnenen Freunde mit ihrer menschlichen Sauberkeit das Bild des
französischen Dichters, wie anders war ihre Lebensform, als sie bei Bourget
und den anderen berühmten Zeitromanciers dargestellt wurde, für die der
›Salon‹ identisch war mit der Welt! Und wie belehrten mich ihre Frauen über
das verbrecherisch falsche Bild, das wir zu Hause aus der Buchlektüre von
der Französin gewonnen, als einer einzig auf Abenteuer, Verschwendung und
Spiegelschein bedachten Mondaine! Nie habe ich bessere, stillere Hausfrauen
gesehen als dort im brüderlichen Kreise, sparsam, bescheiden und heiter
selbst unter den engsten Umständen, kleine Wunder zaubernd auf einem
winzigen Herd, die Kinder behütend und dabei allem Geistigen ihrer Gatten
treu verbunden! Nur wer in diesen Kreisen als Freund, als Kamerad gelebt,
nur der weiß um das wirkliche Frankreich.
Was an Léon Bazalgette, diesem Freund meiner Freunde, dessen Name
ungerechterweise in den meisten Darstellungen der neuen französischen
Literatur vergessen wird, inmitten dieser dichterischen Generation das
Außerordentliche bedeutete, war, daß er seine schöpferische Kraft
ausschließlich für fremde Werke einsetzte und somit seine ganze herrliche
Intensität für die Menschen aufsparte, die er liebte. In ihm, dem geborenen
›Kameraden‹, habe ich den absoluten Typus des aufopfernden Menschen in
Fleisch und Blut kennengelernt, den wahrhaft Hingegebenen, der seine
Lebensaufgabe einzig darin sieht, den wesentlichen Werten seiner Zeit zu
ihrer Wirkung zu verhelfen und nicht einmal dem berechtigten Stolz frönt, als
ihr Entdecker oder Förderer gerühmt zu werden. Sein aktiver Enthusiasmus
war nichts als eine natürliche Funktion seines moralischen Bewußtseins.
Etwas militärisch aussehend, obwohl leidenschaftlicher Antimilitarist, hatte er
im Umgang die Kordialität eines echten Kameraden. Jederzeit bereit, zu
helfen, zu beraten, unerschütterlich in seiner Ehrlichkeit, pünktlich wie ein
Uhrwerk, kümmerte er sich um alles, was einen betraf, aber niemals um
seinen persönlichen Vorteil. Zeit war ihm nichts, Geld war ihm nichts, wenn
es einen Freund galt, und er hatte Freunde in aller Welt, eine kleine, aber
erlesene Schar. Zehn Jahre hatte er daran gewandt, Walt Whitman den
Franzosen durch die Übersetzung aller Gedichte und eine monumentale
Biographie nahezubringen. Mit diesem Vorbild eines freien, weltliebenden
Mannes den geistigen Blick seiner Nation über die Grenzen zu lenken, seine
Landsleute männlicher, kameradschaftlicher zu machen, ward sein
Lebensziel: der beste Franzose, war er zugleich der leidenschaftlichste Anti-
Nationalist.
Wir wurden bald innige, brüderliche Freunde, weil wir beide nicht
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286