Page - 107 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Antlitz wie auf alten Bildern immer vor dem Hintergrund dieser Stadt
abgehoben sehe, die er wie keine andere geliebt. Gedenke ich heute seiner
und jener anderen Meister des wie in erlauchter Goldschmiedekunst
gehämmerten Worts, gedenke ich dieser verehrten Namen, die wie
unerreichbare Sternbilder meine Jugend überleuchtet haben, so drängt sich
mir unwiderstehlich die wehmütige Frage auf: werden solche reine, nur dem
lyrischen Gebilde zugewandte Dichter in unserer gegenwärtigen Zeit der
Turbulenz und allgemeinen Verstörtheit abermals möglich sein? Ist es nicht
ein verschollenes Geschlecht, das ich in ihnen liebend beklage, ein
Geschlecht ohne unmittelbare Nachfolge in unseren, von allen Orkanen des
Schicksals durchstürmten Tagen diese Dichter, die nichts begehrten vom
äußeren Leben, nicht Anteil der breiten Masse, noch Ehrenzeichen und
Würden und Gewinn, die nichts erstreben, als in stillem und doch
leidenschaftlichem Bemühen Strophe an Strophe vollendet zu binden, jede
Zeile durchdrungen von Musik, leuchtend in Farben, glühend von Bildern.
Eine Gilde bildeten sie, einen fast mönchischen Orden mitten in unserem
lärmenden Tag, sie, diese bewußt vom Täglichen Abgewandten, denen im
Weltall nichts wichtiger war als der zarte und doch das Gedröhn der Zeit
überdauernde Laut, wenn ein Reim, zu den andern sich fügend, jene
unbeschreibliche Regung entäußerte, die leiser war als der Ton eines
fallenden Blattes im Wind und doch die fernsten Seelen mit ihrer Schwingung
berührte. Aber wie erhebend für uns jungen Menschen war die Gegenwart
solcher sich selbst Getreuen, wie vorbildlich diese strengen Diener und
Wahrer der Sprache, die einzig dem geläuterten Wort ihre Liebe gaben, dem
Wort, das nicht der Zeit und der Zeitung, sondern dem Dauernden und
Überdauernden galt. Fast beschämend war es, auf sie zu blicken, denn wie
leise lebten sie, wie unscheinbar, wie unsichtbar, der eine bäuerlich auf dem
Lande, der andere in einem kleinen Beruf, der dritte wandernd über die Welt
als ein passionate pilgrim, alle von wenigen nur gekannt, aber von diesen
wenigen um so leidenschaftlicher geliebt. Da war einer in Deutschland und
einer in Frankreich, einer in Italien und doch jeder in derselben Heimat, denn
sie lebten einzig im Gedicht, und indem sie so mit strengem Verzicht alles
Ephemere mieden, formten sie, Kunstwerke bildend, ihr eigenes Leben zum
Kunstwerk. Wunderbar scheint es mir immer wieder, daß wir in unserer
Jugend solche makellosen Poeten unter uns gehabt. Aber ich frage mich
deshalb auch immer wieder in einer Art heimlicher Sorge: werden auch in
unseren Zeiten, in unseren neuen Lebensformen, die den Menschen aus jeder
inneren Sammlung mörderisch hinausjagen wie ein Waldbrand die Tiere aus
ihren verborgensten Verstecken, solche völlig der lyrischen Kunst
verschworenen Seelen möglich sein? Ich weiß wohl, immer wieder ereignet
sich das Wunder eines Dichters in den Zeiten, und Goethes bewegliche
Tröstung in seiner Nänie auf Lord Byron bleibt ewig wahr: »Denn die Erde
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286