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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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sobald ein Satz oder ein Ausdruck ihm nicht vollwertig schien, mit seiner großartigen Geduld den ganzen Brief noch ein zweites Mal. Nie gab Rilke etwas aus der Hand, was nicht ganz vollendet war. Diese Sordiniertheit und gleichzeitige Gesammeltheit seines Wesens wirkte auf jeden bezwingend, der ihm näherkam. Wie man sich Rilke selbst unmöglich heftig denken konnte, so auch keinen andern, der in seiner Gegenwart durch die ausströmende Schwingung seiner Stille nicht jede Lautheit und Anmaßung verloren hätte. Denn sein Verhaltensein schwang aus als eine geheimnisvoll fortwirkende, eine erziehliche, eine moralische Kraft. Nach jedem längeren Gespräch mit ihm war man für Stunden oder sogar Tage unfähig irgendeiner Vulgarität. Freilich setzte anderseits diese ständige Temperiertheit seines Wesens, dieses Nie-sich-voll-geben-Wollens jeder besonderen Herzlichkeit eine frühe Grenze; ich glaube, daß nur wenige Menschen sich rühmen dürfen, Rilkes ›Freunde‹ gewesen zu sein. In den sechs veröffentlichten Bänden seiner Briefe findet sich fast nie diese Ansprache, und das brüderlich vertrauliche Du scheint er seit seinen Schuljahren kaum irgend jemandem gewährt zu haben. Seiner außerordentlichen Sensibilität war es unerträglich, irgend jemanden oder irgend etwas an sich allzu nah herankommen zu lassen, und insbesondere alles stark Maskuline erregte bei ihm ein geradezu physisches Unbehagen. Frauen gab er sich leichter im Gespräch. Ihnen schrieb er viel und gern und war viel freier in ihrer Gegenwart. Vielleicht war es die Abwesenheit des Gutturalen in ihren Stimmen, das ihm wohltat, denn er litt geradezu an unangenehmen Stimmen. Ich sehe ihn noch vor mir in einem Gespräch mit einem hohen Aristokraten, ganz in sich zusammengedrückt, mit gequälten Schultern und nicht einmal die Augen hebend, damit sie nicht verraten sollten, wie sehr er unter dessen unangenehmem Falsett physisch litt. Aber wie gut, mit ihm zu sein, wenn er jemandem wohlgesinnt war! Dann spürte man seine innere Güte, obwohl sie in Worten und Gesten sparsam blieb, wie eine wärmende, heilende Ausstrahlung bis hinein in die innerste Seele. Scheu und zurückhaltend wirkte Rilke in Paris, dieser herzerweiternden Stadt, weitaus am aufgetansten, vielleicht auch, weil man hier sein Werk, seinen Namen noch nicht kannte und er als Anonymer sich immer freier und glücklicher fühlte. Ich besuchte ihn dort in zwei verschiedenen Mietzimmern. Jedes war einfach und schmucklos und bekam doch sofort Stil und Stille durch seinen waltenden Schönheitssinn. Nie durfte es ein mächtiges Mietshaus sein mit lärmenden Nachbarn, lieber ein altes, wenn auch unbequemeres, in dem er sich heimisch machen konnte, und den inneren Raum wußte er sich, wo immer er war, durch ordnende Kraft sofort sinnvoll und seinem Wesen entsprechend zu gestalten. Immer waren nur ganz wenige Dinge um ihn, aber immer leuchteten Blumen in einer Vase oder Schale, 110
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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