Page - 110 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Image of the Page - 110 -
Text of the Page - 110 -
sobald ein Satz oder ein Ausdruck ihm nicht vollwertig schien, mit seiner
großartigen Geduld den ganzen Brief noch ein zweites Mal. Nie gab Rilke
etwas aus der Hand, was nicht ganz vollendet war.
Diese Sordiniertheit und gleichzeitige Gesammeltheit seines Wesens wirkte
auf jeden bezwingend, der ihm näherkam. Wie man sich Rilke selbst
unmöglich heftig denken konnte, so auch keinen andern, der in seiner
Gegenwart durch die ausströmende Schwingung seiner Stille nicht jede
Lautheit und Anmaßung verloren hätte. Denn sein Verhaltensein schwang aus
als eine geheimnisvoll fortwirkende, eine erziehliche, eine moralische Kraft.
Nach jedem längeren Gespräch mit ihm war man für Stunden oder sogar Tage
unfähig irgendeiner Vulgarität. Freilich setzte anderseits diese ständige
Temperiertheit seines Wesens, dieses Nie-sich-voll-geben-Wollens jeder
besonderen Herzlichkeit eine frühe Grenze; ich glaube, daß nur wenige
Menschen sich rühmen dürfen, Rilkes ›Freunde‹ gewesen zu sein. In den
sechs veröffentlichten Bänden seiner Briefe findet sich fast nie diese
Ansprache, und das brüderlich vertrauliche Du scheint er seit seinen
Schuljahren kaum irgend jemandem gewährt zu haben. Seiner
außerordentlichen Sensibilität war es unerträglich, irgend jemanden oder
irgend etwas an sich allzu nah herankommen zu lassen, und insbesondere
alles stark Maskuline erregte bei ihm ein geradezu physisches Unbehagen.
Frauen gab er sich leichter im Gespräch. Ihnen schrieb er viel und gern und
war viel freier in ihrer Gegenwart. Vielleicht war es die Abwesenheit des
Gutturalen in ihren Stimmen, das ihm wohltat, denn er litt geradezu an
unangenehmen Stimmen. Ich sehe ihn noch vor mir in einem Gespräch mit
einem hohen Aristokraten, ganz in sich zusammengedrückt, mit gequälten
Schultern und nicht einmal die Augen hebend, damit sie nicht verraten
sollten, wie sehr er unter dessen unangenehmem Falsett physisch litt. Aber
wie gut, mit ihm zu sein, wenn er jemandem wohlgesinnt war! Dann spürte
man seine innere Güte, obwohl sie in Worten und Gesten sparsam blieb, wie
eine wärmende, heilende Ausstrahlung bis hinein in die innerste Seele.
Scheu und zurückhaltend wirkte Rilke in Paris, dieser herzerweiternden
Stadt, weitaus am aufgetansten, vielleicht auch, weil man hier sein Werk,
seinen Namen noch nicht kannte und er als Anonymer sich immer freier und
glücklicher fühlte. Ich besuchte ihn dort in zwei verschiedenen Mietzimmern.
Jedes war einfach und schmucklos und bekam doch sofort Stil und Stille
durch seinen waltenden Schönheitssinn. Nie durfte es ein mächtiges
Mietshaus sein mit lärmenden Nachbarn, lieber ein altes, wenn auch
unbequemeres, in dem er sich heimisch machen konnte, und den inneren
Raum wußte er sich, wo immer er war, durch ordnende Kraft sofort sinnvoll
und seinem Wesen entsprechend zu gestalten. Immer waren nur ganz wenige
Dinge um ihn, aber immer leuchteten Blumen in einer Vase oder Schale,
110
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286