Page - 114 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Image of the Page - 114 -
Text of the Page - 114 -
seine Statuen.
Er trat zur Türe. Wie er sie abschließen wollte, entdeckte er mich und
starrte mich fast böse an: wer war dieser junge fremde Mensch, der sich
eingeschlichen hatte in sein Atelier? Aber im nächsten Augenblick erinnerte
er sich und kam fast beschämt auf mich zu. »Pardon, Monsieur«, begann er.
Aber ich ließ ihn nicht weitersprechen. Ich faßte nur dankbar seine Hand: am
liebsten hätte ich sie geküßt. In dieser Stunde hatte ich das ewige Geheimnis
aller großen Kunst, ja eigentlich jeder irdischen Leistung aufgetan gesehen:
Konzentration, die Zusammenfassung aller Kräfte, aller Sinne, das Außer-
sich-Sein, das Außer-der-Welt-Sein jedes Künstlers. Ich hatte etwas gelernt
für mein ganzes Leben.
Es war meine Absicht gewesen, Ende Mai von Paris nach London zu
gehen. Aber ich war genötigt, meine Abreise um vierzehn Tage
vorzuverlegen, weil mir meine bezaubernde Wohnung durch einen
unvermuteten Umstand unbehaglich geworden war. Dies geschah in einer
sonderbaren Episode, die mich sehr amüsierte und mir gleichzeitig
belehrenden Einblick in die Denkart ganz verschiedener französischer Milieus
gab.
Ich war über die zwei Pfingstfeiertage von Paris fort gewesen, um mit
Freunden die herrliche Kathedrale von Chartres, die ich noch nicht kannte, zu
bewundern. Als ich am Dienstagmorgen, in mein Hotelzimmer
zurückkehrend, mich umkleiden wollte, fand ich meinen Koffer nicht, der
friedlich alle diese Monate in der Ecke gestanden hatte. Ich ging hinunter zum
Besitzer des kleinen Hotels, der tagsüber abwechselnd mit seiner Frau in der
winzigen Portiersloge saß, ein kleiner, feister, rotwangiger Marseiller, mit
dem ich oft heiter gespaßt und sogar manchmal im gegenüberliegenden Cafe
Trick-Track, sein Lieblingsspiel, gespielt hatte. Er wurde sofort furchtbar
aufgeregt und schrie erbittert, während er mit der Faust auf den Tisch hieb,
die geheimnisvollen Worte: »Also doch!« Noch indes er sich – er hatte wie
immer in Hemdsärmeln gesessen – hastig den Rock anzog und Schuhe statt
seiner bequemen Pantoffeln, erklärte er mir die Sachlage, und vielleicht ist es
nötig, zuerst an eine Sonderheit der Pariser Häuser und Hotels zu erinnern,
um sie verständlich zu machen. In Paris haben die kleineren Hotels und auch
die meisten Privathäuser keine Hausschlüssel, sondern der ›concierge‹, der
Hausmeister, schließt, sobald von außen geläutet wird, die Tür automatisch
von der Portiersloge auf. In den kleineren Hotels und Häusern bleibt nun der
Besitzer oder der Concierge nicht die ganze Nacht in seiner Portiersloge,
sondern öffnet von seinem Ehebette aus durch den Druck auf einen Knopf
meist im Halbschlaf – die Haustür; wer das Haus verläßt, hat ›le cordon, s’il
114
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286