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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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seine Statuen. Er trat zur Türe. Wie er sie abschließen wollte, entdeckte er mich und starrte mich fast böse an: wer war dieser junge fremde Mensch, der sich eingeschlichen hatte in sein Atelier? Aber im nächsten Augenblick erinnerte er sich und kam fast beschämt auf mich zu. »Pardon, Monsieur«, begann er. Aber ich ließ ihn nicht weitersprechen. Ich faßte nur dankbar seine Hand: am liebsten hätte ich sie geküßt. In dieser Stunde hatte ich das ewige Geheimnis aller großen Kunst, ja eigentlich jeder irdischen Leistung aufgetan gesehen: Konzentration, die Zusammenfassung aller Kräfte, aller Sinne, das Außer- sich-Sein, das Außer-der-Welt-Sein jedes Künstlers. Ich hatte etwas gelernt für mein ganzes Leben. Es war meine Absicht gewesen, Ende Mai von Paris nach London zu gehen. Aber ich war genötigt, meine Abreise um vierzehn Tage vorzuverlegen, weil mir meine bezaubernde Wohnung durch einen unvermuteten Umstand unbehaglich geworden war. Dies geschah in einer sonderbaren Episode, die mich sehr amüsierte und mir gleichzeitig belehrenden Einblick in die Denkart ganz verschiedener französischer Milieus gab. Ich war über die zwei Pfingstfeiertage von Paris fort gewesen, um mit Freunden die herrliche Kathedrale von Chartres, die ich noch nicht kannte, zu bewundern. Als ich am Dienstagmorgen, in mein Hotelzimmer zurückkehrend, mich umkleiden wollte, fand ich meinen Koffer nicht, der friedlich alle diese Monate in der Ecke gestanden hatte. Ich ging hinunter zum Besitzer des kleinen Hotels, der tagsüber abwechselnd mit seiner Frau in der winzigen Portiersloge saß, ein kleiner, feister, rotwangiger Marseiller, mit dem ich oft heiter gespaßt und sogar manchmal im gegenüberliegenden Cafe Trick-Track, sein Lieblingsspiel, gespielt hatte. Er wurde sofort furchtbar aufgeregt und schrie erbittert, während er mit der Faust auf den Tisch hieb, die geheimnisvollen Worte: »Also doch!« Noch indes er sich – er hatte wie immer in Hemdsärmeln gesessen – hastig den Rock anzog und Schuhe statt seiner bequemen Pantoffeln, erklärte er mir die Sachlage, und vielleicht ist es nötig, zuerst an eine Sonderheit der Pariser Häuser und Hotels zu erinnern, um sie verständlich zu machen. In Paris haben die kleineren Hotels und auch die meisten Privathäuser keine Hausschlüssel, sondern der ›concierge‹, der Hausmeister, schließt, sobald von außen geläutet wird, die Tür automatisch von der Portiersloge auf. In den kleineren Hotels und Häusern bleibt nun der Besitzer oder der Concierge nicht die ganze Nacht in seiner Portiersloge, sondern öffnet von seinem Ehebette aus durch den Druck auf einen Knopf meist im Halbschlaf – die Haustür; wer das Haus verläßt, hat ›le cordon, s’il 114
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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