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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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dessen Aspekt ich mit nicht geringer Neugier entgegensah. Und sie lohnte sich. Zwischen zwei mächtigen Sergeanten und dadurch in seiner mageren Schmächtigkeit noch grotesker wirkend, erschien ein armer Teufel, ziemlich abgerissen, ohne Kragen, mit einem kleinen, hängenden Schnurrbart und einem trüben, sichtlich halbverhungerten Mausgesicht. Es war, wenn ich so sagen darf, ein schlechter Dieb, was sich ja auch durch seine ungeschickte Technik erwiesen, daß er sich nicht gleich am frühen Morgen mit dem Koffer davongemacht hatte. Er stand mit niedergeschlagenen Augen, leise zitternd, als ob ihn fröre, vor dem Polizeigewaltigen, und zu meiner Schande sei es gesagt, daß er mir nicht nur leid tat, sondern daß ich sogar eine Art Sympathie für ihn empfand. Und dieses mitfühlende Interesse wurde noch verstärkt, als ein Polizeibeamter auf einem großen Brett feierlich angeordnet alle die Gegenstände vorlegte, die man bei der Leibesvisitation gefunden hatte. Eine seltsamere Kollektion war kaum zu erdenken: ein sehr schmutziges und zerrissenes Taschentuch, ein um einen Schlüsselring musikalisch gegeneinanderklingendes Dutzend von Nachschlüsseln und Dietrichen in allen Formaten, eine abgegriffene Brieftasche, aber glücklicherweise keine Waffe, was zum mindesten bewies, daß dieser Dieb sein Metier in zwar kennerischer, aber doch friedlicher Weise ausübte. Es wurde zunächst die Brieftasche vor unseren Augen untersucht. Sie ergab ein überraschendes Resultat. Nicht daß sie etwa Tausend- oder Hundertfrankennoten oder überhaupt eine einzige Banknote enthalten hätte – sie barg nicht weniger als siebenundzwanzig Photographien von stark dekolletierten berühmten Tänzerinnen und Schauspielerinnen sowie drei oder vier Aktphotographien, wodurch kein weiteres Delikt offenkundig wurde, als daß dieser hagere, wehmütige Bursche ein leidenschaftlicher Liebhaber der Schönheit war und die ihm unerreichbaren Sterne der Pariser Theaterwelt wenigstens im Bilde an seinem Herzen ruhen lassen wollte. Obgleich der Unterpräfekt mit strengem Blick diese Akt- und Nacktphotographien Blatt für Blatt betrachtete, entging mir nicht, daß ihn diese sonderbare Sammlerlust bei einem Delinquenten solchen Standes ebenso amüsierte wie mich selbst. Denn auch meine Sympathie für diesen armen Verbrecher hatte sich abermals um ein beträchtliches durch seine Neigung für das Ästhetisch-Schöne gesteigert, und als der Beamte an mich – nun feierlich die Feder in die Hand nehmend – die Frage richtete, ob ich wünsche ›de porter plainte‹, also Klage gegen den Verbrecher zu erheben, antwortete ich mit einem raschen und selbstverständlichen Nein. Hier ist vielleicht zum Verständnis der Situation eine neuerliche Einschaltung vonnöten. Während bei uns und in vielen anderen Ländern im Falle eines Verbrechens die Anklage ex officio erfolgt, das heißt, der Staat 116
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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