Page - 123 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Viele Kostbarkeiten hatte ich in dieser ersten Wohnung noch nicht zu
verstauen. Aber schon schmückte jene in London erworbene Zeichnung von
Blake die Wand und eines der schönsten Gedichte Goethes in seiner
schwungvoll freien Handschrift, – damals noch das Kronstück meiner
Sammlung von Autographen, die ich schon im Gymnasium begonnen hatte.
Mit derselben Herdenhaftigkeit, wie unsere ganze literarische Gruppe
dichtete, hatten wir damals Dichtern, Schauspielern, Sängern ihre
Unterschriften abgejagt, die meisten von uns allerdings diesen Sport wie ihre
Dichterei zugleich mit der Schule aufgegeben, während sich bei mir die
Passion für diese irdischen Schatten genialer Gestalten nur noch steigerte und
gleichzeitig vertiefte. Die bloßen Signaturen wurden mir gleichgültig, auch
die Quote der internationalen Berühmtheit oder Preisbewertung eines Mannes
interessierte mich nicht; was ich suchte, waren die Urschriften oder Entwürfe
von Dichtungen oder Kompositionen, weil mich das Problem der Entstehung
eines Kunstwerks sowohl in den biographischen wie in den psychologischen
Formen mehr als alles andere beschäftigte. Jene geheimnisvollste Sekunde
des Übergangs, da ein Vers, eine Melodie aus dem Unsichtbaren, aus der
Vision und Intuition eines Genies durch graphische Fixierung ins Irdische
tritt, wo anders ist sie belauschbar, überprüfbar als auf den durchkämpften
oder wie in Trance hingejagten Urschriften der Meister? Ich weiß von einem
Künstler nicht genug, wenn ich nur sein geschaffenes Werk vor mir habe, und
ich bekenne mich zu Goethes Wort, daß man die großen Schöpfungen, um sie
ganz zu begreifen, nicht nur in ihrer Vollendung gesehen, sondern auch in
ihrem Werden belauscht haben muß. Aber auch rein optisch wirkt auf mich
eine erste Skizze Beethovens mit ihren wilden, ungeduldigen Strichen, ihrem
wüsten Durcheinander begonnener und verworfener Motive, mit der darin auf
ein paar Bleistiftstriche komprimierten Schöpfungswut seiner dämonisch
überfüllten Natur geradezu physisch erregend, weil der Anblick mich so sehr
geistig erregt; ich kann solch ein hieroglyphisches Blatt verzaubert und
verliebt anstarren wie andere ein vollendetes Bild. Ein Korrekturblatt Balzacs,
wo fast jeder Satz zerrissen, jede Zeile umgeackert, der weiße Rand mit
Strichen, Zeichen, Worten schwarz zernagt ist, versinnlicht mir den Ausbruch
eines menschlichen Vesuvs; und irgendein Gedicht, das ich jahrzehntelang
liebte, zum erstenmal in der Urschrift sehe, in seiner ersten Irdischkeit, erregt
in mir ehrfürchtig religiöses Gefühl; ich getraue mich kaum, es zu berühren.
Zu dem Stolz, einige solcher Blätter zu besitzen, gesellte sich noch der fast
sportliche Reiz, sie zu erwerben, ihnen nachzujagen auf Auktionen oder in
Katalogen; wieviel gespannte Stunden danke ich dieser Jagd, wie viele
erregende Zufälle! Da war man um einen Tag zu spät gekommen, dort hatte
sich ein begehrtes Stück als Fälschung erwiesen, dann wieder ereignete sich
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286