Page - 124 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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ein Wunder: man besaß ein kleines Manuskript Mozarts und hatte es doch nur
mit halber Freude, weil ein Streifen Musik davon weggeschnitten war. Und
plötzlich taucht dieser von fünfzig oder hundert Jahren von einem liebevollen
Vandalen abgeschnittene Streifen in einer Stockholmer Auktion auf, und man
kann wieder die Arie zusammenfügen, genauso wie Mozart sie vor
hundertfünfzig Jahren hinterließ. Damals waren meine literarischen
Einnahmen freilich noch nicht zureichend, um in großem Stil zu kaufen, aber
jeder Sammler weiß, wie sehr es die Freude an einem Stück steigert, wenn
man sich eine andere Freude versagen mußte, um es zu erwerben. Außerdem
setzte ich alle meine Dichterfreunde in Kontribution. Rolland gab mir einen
Band seines ›Jean Christophe‹, Rilke sein populärstes Werk, ›Die Weise von
Liebe und Tod‹, Claudel die ›Annonce faite à Marie‹, Gorkij eine große
Skizze, Freud eine Abhandlung; sie wußten alle, daß kein Museum ihre
Handschriften liebevoller hütete. Wieviel ist heute davon in alle Winde
zerstoben mit anderen geringeren Freuden!
Daß das sonderbarste und kostbarste literarische Museumsstück zwar nicht
in meinem Schranke, aber doch im gleichen Vorstadthaus sich barg, entdeckte
ich erst später durch einen Zufall. Über mir wohnte in ebenso bescheidener
Wohnung ein grauhaariges, ältliches Fräulein, ihrem Beruf nach
Klavierlehrerin; eines Tages sprach sie mich in nettester Weise auf der Stiege
an, es bedrücke sieeigentlich, daß ich bei meiner Arbeit unfreiwilliger
Zuhörer ihrer Lehrstunden sein müsse, und sie hoffe, ich werde durch die
unvollkommenen Künste ihrer Schülerinnen nicht allzusehr gestört. Im
Gespräch ergab sich dann, daß ihre Mutter bei ihr wohnte und, halb blind, das
Zimmer kaum mehr verließ, und daß diese achtzigjährige Frau niemand
geringerer war als die Tochter von Goethes Leibarzt Dr. Vogel und 1830 von
Ottilie von Goethe in persönlicher Gegenwart Goethes aus der Taufe gehoben.
Mir wurde ein wenig schwindlig – es gab 1910 noch einen Menschen auf
Erden, auf dem Goethes heiliger Blick geruht! Nun war mir immer ein
besonderer Sinn der Ehrfurcht für jede irdische Manifestation des Genius zu
eigen, und außer jenen Manuskriptblättern trug ich mir an Reliquien
zusammen, was ich erreichen konnte; ein Zimmer meines Hauses war in
späterer Zeit – in meinem ›zweiten Leben‹ – ein, wenn ich so sagen darf,
kultischer Raum. Da stand der Schreibtisch Beethovens und seine kleine
Geldkassette, aus der er noch aus dem Bett mit schon vom Tode berührter,
zitternder Hand sich die kleinen Beträge für die Dienstmagd geholt; da war
ein Blatt aus seinem Küchenbuche und eine Locke seines schon ergrauten
Haars. Eine Kielfeder Goethes habe ich jahrelang unter Glas gehütet, um der
Versuchung zu entgehen, sie in die eigene unwürdige Hand zu nehmen. Aber
wie unvergleichlich diesen immerhin leblosen Dingen war doch ein Mensch,
ein atmendes, lebendes Wesen, das noch Goethes dunkles, rundes Auge
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286