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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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ein Wunder: man besaß ein kleines Manuskript Mozarts und hatte es doch nur mit halber Freude, weil ein Streifen Musik davon weggeschnitten war. Und plötzlich taucht dieser von fünfzig oder hundert Jahren von einem liebevollen Vandalen abgeschnittene Streifen in einer Stockholmer Auktion auf, und man kann wieder die Arie zusammenfügen, genauso wie Mozart sie vor hundertfünfzig Jahren hinterließ. Damals waren meine literarischen Einnahmen freilich noch nicht zureichend, um in großem Stil zu kaufen, aber jeder Sammler weiß, wie sehr es die Freude an einem Stück steigert, wenn man sich eine andere Freude versagen mußte, um es zu erwerben. Außerdem setzte ich alle meine Dichterfreunde in Kontribution. Rolland gab mir einen Band seines ›Jean Christophe‹, Rilke sein populärstes Werk, ›Die Weise von Liebe und Tod‹, Claudel die ›Annonce faite à Marie‹, Gorkij eine große Skizze, Freud eine Abhandlung; sie wußten alle, daß kein Museum ihre Handschriften liebevoller hütete. Wieviel ist heute davon in alle Winde zerstoben mit anderen geringeren Freuden! Daß das sonderbarste und kostbarste literarische Museumsstück zwar nicht in meinem Schranke, aber doch im gleichen Vorstadthaus sich barg, entdeckte ich erst später durch einen Zufall. Über mir wohnte in ebenso bescheidener Wohnung ein grauhaariges, ältliches Fräulein, ihrem Beruf nach Klavierlehrerin; eines Tages sprach sie mich in nettester Weise auf der Stiege an, es bedrücke sieeigentlich, daß ich bei meiner Arbeit unfreiwilliger Zuhörer ihrer Lehrstunden sein müsse, und sie hoffe, ich werde durch die unvollkommenen Künste ihrer Schülerinnen nicht allzusehr gestört. Im Gespräch ergab sich dann, daß ihre Mutter bei ihr wohnte und, halb blind, das Zimmer kaum mehr verließ, und daß diese achtzigjährige Frau niemand geringerer war als die Tochter von Goethes Leibarzt Dr. Vogel und 1830 von Ottilie von Goethe in persönlicher Gegenwart Goethes aus der Taufe gehoben. Mir wurde ein wenig schwindlig – es gab 1910 noch einen Menschen auf Erden, auf dem Goethes heiliger Blick geruht! Nun war mir immer ein besonderer Sinn der Ehrfurcht für jede irdische Manifestation des Genius zu eigen, und außer jenen Manuskriptblättern trug ich mir an Reliquien zusammen, was ich erreichen konnte; ein Zimmer meines Hauses war in späterer Zeit – in meinem ›zweiten Leben‹ – ein, wenn ich so sagen darf, kultischer Raum. Da stand der Schreibtisch Beethovens und seine kleine Geldkassette, aus der er noch aus dem Bett mit schon vom Tode berührter, zitternder Hand sich die kleinen Beträge für die Dienstmagd geholt; da war ein Blatt aus seinem Küchenbuche und eine Locke seines schon ergrauten Haars. Eine Kielfeder Goethes habe ich jahrelang unter Glas gehütet, um der Versuchung zu entgehen, sie in die eigene unwürdige Hand zu nehmen. Aber wie unvergleichlich diesen immerhin leblosen Dingen war doch ein Mensch, ein atmendes, lebendes Wesen, das noch Goethes dunkles, rundes Auge 124
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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