Page - 130 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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lauschende Menge. Ob ich ihm nicht einen solchen Einakter schreiben
könnte?
Ich versprach, es zu versuchen. Und Wille kann, wie Goethe sagt,
manchmal ›die Poesie kommandieren‹. Ich entwarf in der Skizze einen
Einakter ›Der verwandelte Komödiant‹, ein federleichtes Spiel aus dem
Rokoko mit zwei eingebauten großen lyrisch-dramatischen Monologen.
Unwillkürlich hatte ich bei jedem Wort aus seinem Willen heraus gedacht,
indem ich mich mit aller Leidenschaft in Kainzens Wesen und selbst
Sprachweise hineinfühlte; so wurde diese gelegentliche Arbeit einer jener
Glücksfälle, wie sie nie bloße Handfertigkeit, sondern einzig Begeisterung
verwirklicht. Nach drei Wochen konnte ich Kainz die halbfertige Skizze
zeigen mit der einen schon eingebauten ›Arie‹. Kainz war ehrlich
enthusiasmiert. Er rezitierte sofort aus dem Manuskript zweimal jene
Kaskade, das zweite Mal schon mit unvergeßlicher Vollendung. Wie lange ich
noch brauche? fragte er, sichtlich ungeduldig. Einen Monat. Vortrefflich! Das
klappe wunderbar! Er ginge jetzt für einige Wochen zu einem Gastspiel nach
Deutschland, nach seiner Rückkehr müßten sofort die Proben beginnen, denn
dieses Stück gehöre ins Burgtheater. Und dann, das verspreche er mir: wohin
er immer reise, nehme er es in sein Repertoire, denn es passe ihm wie ein
Handschuh. »Wie ein Handschuh!« Immer wieder von neuem wiederholte er,
mir dreimal herzlich die Hand schüttelnd, dieses Wort.
Offenbar hatte er das Burgtheater noch vor seiner Abreise rebellisch
gemacht, denn der Direktor telephonierte mir höchstpersönlich, ich möchte
ihm den Einakter schon in der Skizze zeigen und nahm ihn sofort im voraus
an. Die Rollen um Kainz wurden bereits den Burgschauspielern zur Lektüre
übermittelt. Wieder schien ohne besonderen Einsatz das höchste Spiel
gewonnen – das Burgtheater, unser Stadtstolz, und im Burgtheater noch der
neben der Duse größte Schauspieler der Zeit in einem Werk von mir: fast
zuviel war dies für einen Beginnenden. Jetzt bestand nur noch eine einzige
Gefahr, nämlich, daß Kainz vor dem vollendeten Stücke seine Meinung
ändern könnte, aber wie unwahrscheinlich war dies! Immerhin war die
Ungeduld jetzt auf meiner Seite. Endlich las ich in der Zeitung, Josef Kainz
sei von seiner Gastspielreise zurückgekehrt. Zwei Tage zögerte ich aus
Höflichkeit, um ihn nicht gleich bei seiner Ankunft zu überfallen. Am dritten
Tag aber ermannte ich mich und überreichte dem mir wohlbekannten alten
Portier im Hotel Sacher, wo Kainz damals wohnte, meine Karte: »Zu Herrn
Hofschauspieler Kainz!« Der alte Mann starrte mich über seinem Zwicker
erstaunt an. »Ja, wissen’s denn noch nicht, Herr Doktor?« Nein, ich wußte
nichts. »Sie haben ihn doch heute früh ins Sanatorium geführt.« Nun
ersterfuhr ich’s: Kainz war schwerkrank von seiner Gastspielreise
zurückgekommen, auf der er, die furchtbarsten Schmerzen vor dem
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286