Page - 131 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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nichtsahnenden Publikum heroisch bemeisternd, zum letztenmal seine großen
Rollen gespielt. Am nächsten Tage wurde er wegen Krebs operiert. Noch
wagten wir nach den Zeitungsbulletins auf eine Genesung zu hoffen, und ich
besuchte ihn an seinem Krankenbett. Er lag müde da, abgezehrt, noch größer
als sonst schienen die dunklen Augen in dem verfallenen Gesicht, und ich
erschrak: über den ewig jugendlichen, den so herrlich beredten Lippen
zeichnete sich zum erstenmal ein eisgrauer Schnurrbart ab, ich sah einen
alten, einen sterbenden Mann. Wehmütig lächelte er mir zu: »Wird’s mich der
liebe Gott noch spielen lassen, unser Stück? Das könnt’ mich noch gesund
machen.« Aber wenige Wochen später standen wir an seinem Sarg.
Man wird mein Unbehagen verstehen, weiter im Dramatischen zu beharren
und die Besorgnis, die sich fortan meldete, sobald ich ein neues Stück einem
Theater übergab. Daß die beiden größten Schauspieler Deutschlands
gestorben waren, nachdem sie meine Verse als letzte geprobt, machte mich,
ich schäme mich nicht, es einzugestehen, abergläubisch. Erst einige Jahre
später raffte ich mich wieder zum Dramatischen auf, und als der neue
Direktor des Burgtheaters, Alfred Baron Berger, ein eminenter Fachmann des
Theaters und Meister des Vortrags, das Drama sofort akzeptierte, sah ich mir
beinahe ängstlich die Liste der ausgewählten Schauspieler an und atmete
paradoxerweise auf: »Gott sei Dank, es ist kein Prominenter darunter!« Das
Verhängnis hatte niemanden, gegen den es sich auswirken konnte. Und
dennoch geschah das Unwahrscheinliche. Sperrte man dem Unheil die eine
Pforte, so schleicht es durch eine andere ein. Ich hatte nur an die Schauspieler
gedacht, nicht an den Direktor, der sich persönlich die Leitung meiner
Tragödie ›Das Haus am Meer‹ vorbehalten und das Regiebuch schon
entworfen hatte, an Alfred Baron Berger. Und tatsächlich: vierzehn Tage ehe
die ersten Proben beginnen sollten, war er tot. Der Fluch war also noch in
Kraft, der auf meinen dramatischen Werken zu lasten schien; selbst da mehr
als ein Jahrzehnt später ›Jeremias‹ und ›Valpone‹ nach dem Weltkrieg in allen
denkbaren Sprachen über die Bühne gingen, fühlte ich mich nicht sicher. Und
ich handelte bewußt gegen mein Interesse, als ich 1931 ein neues Stück ›Das
Lamm des Armen‹ vollendet hatte. Einen Tag, nachdem ich ihm das
Manuskript zugesandt, bekam ich von meinem Freunde Alexander Moissi ein
Telegramm, ich möchte ihm die Hauptrolle in der Uraufführung reservieren.
Moissi, der aus seiner italienischen Heimat einen sinnlichen Wohllaut der
Sprache auf die deutsche Bühne gebracht, wie sie ihn vordem nie gekannt,
war damals der einzige große Nachfolger von Josef Kainz. Bezaubernd als
Erscheinung, klug, lebendig und außerdem noch ein gütiger und
begeisterungsfähiger Mensch, gab er jedem Werke etwas von seinem
persönlichen Zauber mit; ich hätte mir keinen idealeren Vertreter für die Rolle
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286