Page - 136 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Minister, brachte die Eulenburg-Affäre zur Explosion, ließ das kaiserliche
Palais jede Woche vor anderen Attacken und Enthüllungen zittern; aber trotz
all dem blieb Hardens private Liebe das Theater und die Literatur. Eines
Tages erschien nun in der ›Zukunft‹ eine Reihe von Aphorismen, die mit
einem mir nicht mehr erinnerlichen Pseudonym gezeichnet waren und mir
durch besondere Klugheit sowie sprachliche Konzentrationskraft auffielen.
Als ständiger Mitarbeiter schrieb ich an Harden: »Wer ist dieser neue Mann?
Seit Jahren habe ich keine so gut geschliffenen Aphorismen gelesen.«
Die Antwort kam nicht von Harden, sondern von einem Herrn, der Walther
Rathenau unterschrieb und der, wie ich aus seinem Briefe und auch von
anderer Seite erfuhr, kein anderer war als der Sohn des allmächtigen Direktors
der Berliner Elektrizitätsgesellschaft und selber Großkaufmann,
Großindustrieller, Aufsichtsrat zahlloser Gesellschaften, einer der neuen
deutschen (um ein Wort Jean Pauls zu benutzen) ›weltseitigen‹ Kaufleute. Er
schrieb mir sehr herzlich und dankbar, mein Brief sei der erste Zuruf
gewesen, den er für seinen literarischen Versuch empfangen hätte. Obwohl
mindestens zehn Jahre älter als ich, bekannte er mir offen seine Unsicherheit,
ob er wirklich schon ein ganzes Buch seiner Gedanken und Aphorismen
veröffentlichen sollte. Schließlich sei er doch ein Außenseiter und bisher habe
seine ganze Wirksamkeit auf ökonomischem Gebiet gelegen. Ich ermutigte
ihn aufrichtig, wir blieben in brieflichem Kontakt, und bei meinem nächsten
Aufenthalt in Berlin rief ich ihn telephonisch an. Eine zögernde Stimme
antwortete: »Ach, da sind Sie. Aber wie schade, ich reise morgen früh um
sechs nach Südafrika … « Ich unterbrach: »Dann wollen wir uns
selbstverständlich ein anderes Mal sehen.« Aber die Stimme setzte langsam
überlegend fort: »Nein, warten Sie … einen Augenblick … Der Nachmittag
ist mit Konferenzen verstellt … Abends muß ich ins Ministerium und dann
noch ein Klubdiner … Aber könnten Sie noch um elf Uhr fünfzehn zu mir
kommen?« Ich stimmte zu. Wir plauderten bis zwei Uhr morgens. Um sechs
Uhr reiste er – wie ich später erfuhr, im Auftrag des deutschen Kaisers – nach
Südwestafrika.
Ich erzähle dies Detail, weil es so ungeheuer charakteristisch für Rathenau
ist. Dieser vielbeschäftigte Mann hatte immer Zeit. Ich habe ihn gesehen in
den schwersten Kriegstagen und knapp vor der Konferenz von Genua und bin
wenige Tage vor seiner Ermordung noch im selben Automobil, in dem er
erschossen wurde, dieselbe Straße mit ihm gefahren. Er hatte ständig seinen
Tag bis auf die einzelne Minute eingeteilt und konnte doch jederzeit mühelos
aus einer Materie in die andere umschalten, weil sein Gehirn immer parat war,
ein Instrument von einer Präzision und Rapidität, wie ich es nie bei einem
anderen Menschen gekannt. Er sprach fließend, als ob er von einem
unsichtbaren Blatt ablesen würde, und formte dennoch jeden einzelnen Satz
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286