Page - 137 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Image of the Page - 137 -
Text of the Page - 137 -
so plastisch und klar, daß seine Konversation mitstenographiert ein
vollkommen druckreifes Exposé ergeben hätte. Ebenso sicher wie Deutsch
sprach er Französisch, Englisch und Italienisch – nie ließ ihn sein Gedächtnis
im Stich, nie brauchte er für irgendeine Materie eine besondere Vorbereitung.
Wenn man mit ihm sprach, fühlte man sich gleichzeitig dumm, mangelhaft
gebildet, unsicher, verworren angesichts seiner ruhig wägenden, alles klar
überschauenden Sachlichkeit. Aber etwas war in dieser blendenden
Helligkeit, in dieser kristallenen Klarheit seines Denkens, was unbehaglich
wirkte wie in seiner Wohnung die erlesensten Möbel, die schönsten Bilder.
Sein Geist war ein genial erfundener Apparat, seine Wohnung wie ein
Museum, und in seinem feudalen Königin-Luisen-Schloß in der Mark
vermochte man nicht warm zu werden vor lauter Ordnung und
Übersichtlichkeit und Sauberkeit. Irgend etwas gläsern Durchsichtiges und
darum Substanzloses war in seinem Denken; selten habe ich die Tragik des
jüdischen Menschen stärker gefühlt als in seiner Erscheinung, die bei aller
sichtlicher Überlegenheit voll einer tiefen Unruhe und Ungewißheit war.
Meine anderen Freunde, wie zum Beispiel Verhaeren, Ellen Key, Bazalgette
waren nicht ein Zehntel so klug, nicht ein Hundertstel so universal, so
weltkennerisch wie er, aber sie standen sicher in sich selbst. Bei Rathenau
spürte ich immer, daß er mit all seiner unermeßlichen Klugheit keinen Boden
unter den Füßen hatte. Seine ganze Existenz war ein einziger Konflikt immer
neuer Widersprüche. Er hatte alle denkbare Macht geerbt von seinem Vater
und wollte doch nicht sein Erbe sein, er war Kaufmann und wollte sich als
Künstler fühlen, er besaß Millionen und spielte mit sozialistischen Ideen, er
empfand sich als Jude und kokettierte mit Christus. Er dachte international
und vergötterte das Preußentum, er träumte von einer Volksdemokratie und
war jedesmal hochgeehrt, von Kaiser Wilhelm empfangen und befragt zu
werden, dessen Schwächen und Eitelkeiten er hellsichtig durchschaute, ohne
darum der eigenen Eitelkeit Herr werden zu können. So war seine pausenlose
Tätigkeit vielleicht nur ein Opiat, um eine innere Nervosität zu überspielen
und die Einsamkeit zu ertöten, die um sein innerstes Leben lag. Erst in der
verantwortlichen Stunde, als 1919 nach dem Zusammenbruch der deutschen
Armeen ihm die schwerste Aufgabe der Geschichte zugeteilt wurde, den
zerrütteten Staat aus dem Chaos wieder lebensfähig zu gestalten, wurden
plötzlich die ungeheuren potentiellen Kräfte in ihm einheitliche Kraft. Und er
schuf sich die Größe, die seinem Genie eingeboren war, durch den Einsatz
seines Lebens an eine einzige Idee: Europa zu retten.
Nebst manchem Blick ins Weite in belebenden Gesprächen, die an geistiger
Intensität und Luzidität vielleicht nur jenen mit Hofmannsthal, Valéry und
Graf Keyserling zu vergleichen wären, nebst der Erweiterung meines
137
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286