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universalisch denkenden Gelehrten und einem auf das Deutschtum in seinem
engsten und brutalsten Sinn festgerannten, wüsten Agitator. Aber einer der
Schüler Haushofers war Rudolf Heß gewesen, und er hatte die Verbindung
zustande gebracht; Hitler, an sich fremden Ideen wenig zugänglich, besaß nun
von Anfang an den Instinkt, sich alles anzueignen, was seinen persönlichen
Zielen von Nutzen sein konnte; darum mündete und erschöpfte sich die
›Geopolitik‹ für ihn vollkommen in nationalsozialistischer Politik, und er
machte sich so viel von ihr dienstbar, als seinen Zwecken dienen konnte.
Immer war es ja die Technik des Nationalsozialismus, seine durchaus
eindeutig egoistischen Machtinstinkte ideologisch und pseudomoralisch zu
unterkellern, und mit diesem Begriff ›Lebensraum‹ war endlich für seinen
nackten Aggressionswillen ein philosophisches Mäntelchen gegeben, ein
durch seine vage Definitionsmöglichkeit unverfänglich scheinendes
Schlagwort, das im Falle eines Erfolges jede Annexion, auch die
willkürlichste, als ethische und ethnologische Notwendigkeit rechtfertigen
konnte. So ist es mein alter Reisebekannter, der – ich weiß nicht, ob mit
Wissen und Willen – jene fundamentale und für die Welt verhängnisvolle
Umstellung in Hitlers – ursprünglich streng auf das Nationale und die
Rassenreinheit begrenzter – Zielsetzung verschuldet hat, die dann durch die
Theorie des ›Lebensraums‹ in den Slogan ausartete: ›Heute gehört uns
Deutschland, morgen die ganze Welt‹ – ein ebenso sinnfälliges Beispiel, daß
eine einzige prägnante Formulierung durch die immanente Kraft des Wortes
sich in Tat und Verhängnis umsetzen kann wie vordem die Formulierung der
Enzyklopädisten von der Herrschaft der ›raison‹ schließlich in ihr Gegenteil,
Terror und Massenemotion, umschlugen. Persönlich hat Haushofer in der
Partei, soviel ich weiß, nie eine sichtbare Stellung eingenommen, ist vielleicht
sogar nie Parteimitglied gewesen; ich sehe in ihm keineswegs wie die
fingerfertigen Journalisten von heute eine dämonische ›graue Eminenz‹, die
im Hintergrunde versteckt, die gefährlichsten Pläne ausheckt und sie dem
Führer souffliert. Aber daß es seine Theorien waren, die mehr als Hitlers
rabiateste Berater die aggressive Politik des Nationalsozialismus unbewußt
oder bewußt aus dem eng Nationalen ins Universelle getrieben, unterliegt
keinem Zweifel; erst die Nachwelt wird mit besserer Dokumentierung, als sie
uns Zeitgenossen zur Verfügung steht, seine Gestalt auf das richtige
historische Maß bringen.
Dieser ersten Überseereise schloß sich nach einiger Zeit die zweite nach
Amerika an. Auch sie geschah aus keiner anderen Absicht, als die Welt zu
sehen und womöglich ein Stück der Zukunft, die vor uns lag; ich glaube,
wirklich einer der ganz wenigen Schriftsteller gewesen zu sein, die
hinüberfuhren, nicht um Geld zu holen oder journalistisch Amerika
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286