Page - 143 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Verdienst zu finden! So begann ich von Stellenbüro zu Stellenbüro zu
wandern und an den Türen die Anschlagzettel zu studieren. Da war ein
Bäcker gesucht, dort ein Aushilfsschreiber, der Französisch und Italienisch
können mußte, hier ein Buchhandlungsgehilfe: dies letztere immerhin eine
erste Chance für mein imaginäres Ich. So kletterte ich hinauf, drei Stock
eiserne Wendeltreppen, erkundigte mich nach dem Gehalt und verglich es
wiederum in den Zeitungsannoncen mit den Preisen für ein Zimmer in der
Bronx. Nach zwei Tagen ›Stellensuche‹ hatte ich theoretisch fünf Posten
gefunden, die mir das Leben hätten fristen können; so hatte ich stärker als im
bloßen Flanieren mich überzeugt, wieviel Raum, wieviel Möglichkeit in
diesem jungen Lande für jeden Arbeitswilligen vorhanden war, und das
imponierte mir. Auch hatte ich durch dieses Wandern von Agentur zu
Agentur, durch das Mich-Vorstellen in Geschäften Einblick in die göttliche
Freiheit des Landes gewonnen. Niemand fragte mich nach meiner
Nationalität, meiner Religion, meiner Herkunft, und ich war ja – phantastisch
für unsere heutige Welt der Fingerabdrücke, Visen und Polizeinachweise –
ohne Paß gereist. Aber da stand die Arbeit und wartete auf den Menschen; das
allein entschied. In einer Minute war ohne den hemmenden Eingriff von Staat
und Formalitäten und Trade-Unions in diesen Zeiten schon sagenhaft
gewordener Freiheit der Kontrakt geschlossen. Dank dieser ›Stellungssuche‹
habe ich gleich in den ersten Tagen mehr von Amerika gelernt als in all den
späteren Wochen, wo ich als behaglicher Tourist dann Philadelphia, Boston,
Baltimore, Chicago durchwanderte, einzig in Boston bei Charles Loeffler, der
einige meiner Gedichte komponiert hatte, ein paar gesellige Stunden
verbringend, sonst immer allein. Ein einziges Mal unterbrach eine
Überraschung diese völlige Anonymität meiner Existenz. Ich erinnere mich
noch deutlich an diesen Augenblick. Ich schlenderte in Philadelphia eine
breite Avenue entlang; vor einer großen Buchhandlung blieb ich stehen, um
wenigstens an den Namen der Autoren irgend etwas Bekanntes, mir schon
Vertrautes zu empfinden. Plötzlich schrak ich auf. Im Schaufenster dieser
Buchhandlung standen links unten sechs oder sieben deutsche Bücher, und
von einem sprang mein eigener Name mich an. Ich blickte wie verzaubert hin
und begann nachzudenken. Etwas von meinem Ich, das da unbekannt und
scheinbar sinnlos durch diese fremden Straßen trieb, von niemandem gekannt,
von niemandem beachtet, war also schon vor mir dagewesen; der
Buchhändler mußte meinen Namen auf einen Bücherzettel geschrieben haben,
damit dieses Buch zehn Tage über den Ozean hinüberfuhr. Für einen
Augenblick schwand das Gefühl der Verlassenheit, und als ich vor zwei
Jahren wieder durch Philadelphia kam, suchte ich unbewußt immer wieder
diese Auslage.
San Franzisco zu erreichen – Hollywood war zu jener Zeit noch nicht
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286