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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Verdienst zu finden! So begann ich von Stellenbüro zu Stellenbüro zu wandern und an den Türen die Anschlagzettel zu studieren. Da war ein Bäcker gesucht, dort ein Aushilfsschreiber, der Französisch und Italienisch können mußte, hier ein Buchhandlungsgehilfe: dies letztere immerhin eine erste Chance für mein imaginäres Ich. So kletterte ich hinauf, drei Stock eiserne Wendeltreppen, erkundigte mich nach dem Gehalt und verglich es wiederum in den Zeitungsannoncen mit den Preisen für ein Zimmer in der Bronx. Nach zwei Tagen ›Stellensuche‹ hatte ich theoretisch fünf Posten gefunden, die mir das Leben hätten fristen können; so hatte ich stärker als im bloßen Flanieren mich überzeugt, wieviel Raum, wieviel Möglichkeit in diesem jungen Lande für jeden Arbeitswilligen vorhanden war, und das imponierte mir. Auch hatte ich durch dieses Wandern von Agentur zu Agentur, durch das Mich-Vorstellen in Geschäften Einblick in die göttliche Freiheit des Landes gewonnen. Niemand fragte mich nach meiner Nationalität, meiner Religion, meiner Herkunft, und ich war ja – phantastisch für unsere heutige Welt der Fingerabdrücke, Visen und Polizeinachweise – ohne Paß gereist. Aber da stand die Arbeit und wartete auf den Menschen; das allein entschied. In einer Minute war ohne den hemmenden Eingriff von Staat und Formalitäten und Trade-Unions in diesen Zeiten schon sagenhaft gewordener Freiheit der Kontrakt geschlossen. Dank dieser ›Stellungssuche‹ habe ich gleich in den ersten Tagen mehr von Amerika gelernt als in all den späteren Wochen, wo ich als behaglicher Tourist dann Philadelphia, Boston, Baltimore, Chicago durchwanderte, einzig in Boston bei Charles Loeffler, der einige meiner Gedichte komponiert hatte, ein paar gesellige Stunden verbringend, sonst immer allein. Ein einziges Mal unterbrach eine Überraschung diese völlige Anonymität meiner Existenz. Ich erinnere mich noch deutlich an diesen Augenblick. Ich schlenderte in Philadelphia eine breite Avenue entlang; vor einer großen Buchhandlung blieb ich stehen, um wenigstens an den Namen der Autoren irgend etwas Bekanntes, mir schon Vertrautes zu empfinden. Plötzlich schrak ich auf. Im Schaufenster dieser Buchhandlung standen links unten sechs oder sieben deutsche Bücher, und von einem sprang mein eigener Name mich an. Ich blickte wie verzaubert hin und begann nachzudenken. Etwas von meinem Ich, das da unbekannt und scheinbar sinnlos durch diese fremden Straßen trieb, von niemandem gekannt, von niemandem beachtet, war also schon vor mir dagewesen; der Buchhändler mußte meinen Namen auf einen Bücherzettel geschrieben haben, damit dieses Buch zehn Tage über den Ozean hinüberfuhr. Für einen Augenblick schwand das Gefühl der Verlassenheit, und als ich vor zwei Jahren wieder durch Philadelphia kam, suchte ich unbewußt immer wieder diese Auslage. San Franzisco zu erreichen – Hollywood war zu jener Zeit noch nicht 143
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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