Page - 146 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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alte Zeit‹.
Aber nicht nur die Städte, auch die Menschen selbst wurden schöner und
gesünder dank des Sports, der besseren Ernährung, der verkürzten Arbeitszeit
und der innigeren Bindung an die Natur. Der Winter, früher eine Zeit der Öde,
von den Menschen mißmutig bei Kartenspielen in Wirtshäusern oder
gelangweilt in überheizten Stuben vertan, war auf den Bergen entdeckt
worden als eine Kelter gefilterter Sonne, als Nektar für die Lungen, als
Wollust der blutdurchjagten Haut. Und die Berge, die Seen, das Meer lagen
nicht mehr so fernab wie einst. Das Fahrrad, das Automobil, die elektrischen
Bahnen hatten die Distanzen zerkleinert und der Welt ein neues Raumgefühl
gegeben. Sonntags sausten in grellen Sportjacken auf Skiern und Rodeln
Tausende und Zehntausende die Schneehalden hinab, überall entstanden
Sportpaläste und Schwimmbäder. Und gerade im Schwimmbad konnte man
die Verwandlung deutlich gewahren; während in meinen Jugendjahren ein
wirklich wohlgewachsener Mann auffiel inmitten der Dickhälse,
Schmerbäuche und eingefallenen Brüste, wetteifern jetzt miteinander
turnerisch gelenkige, von Sonne gebräunte, von Sport gestraffte Gestalten in
antikisch heiterem Wettkampf. Niemand außer den Allerärmsten blieb
sonntags mehr zu Hause, die ganze Jugend wanderte, kletterte und kämpfte,
in allen Sportarten geschult; wer Ferien hatte, zog nicht mehr wie in meiner
Eltern Tage in die Nähe der Stadt oder bestenfalls ins Salzkammergut, man
war neugierig auf die Welt geworden, ob sie überall so schön sei und noch
anders schön; während früher nur die Privilegierten das Ausland gesehen,
reisten jetzt Bankbeamte und kleine Gewerbsleute nach Italien, nach
Frankreich. Es war billiger, es war bequemer geworden, das Reisen, und vor
allem: es war der neue Mut, die neue Kühnheit in den Menschen, die sich
auch verwegener machte im Wandern, weniger ängstlich und sparsam im
Leben –, ja, man schämte sich, ängstlich zu sein. Die ganze Generation
entschloß sich, jugendlicher zu werden, jeder war im Gegensatz zu meiner
Eltern Welt stolz darauf, jung zu sein; plötzlich verschwanden zuerst bei den
Jüngeren die Barte, dann ahmten ihnen die Älteren nach, um nicht als alt zu
gelten. Jungsein, Frischsein und nicht mehr Würdigtun wurde die Parole. Die
Frauen warfen die Korsetts weg, die ihnen die Brüste eingeengt, sie
verzichteten auf die Sonnenschirme und Schleier, weil sie Luft und Sonne
nicht mehr scheuten, sie kürzten die Röcke, um besser beim Tennis die Beine
regen zu können, und zeigten keine Scham mehr, die wohlgewachsenen
sichtbar werden zu lassen. Die Mode wurde immer natürlicher, Männer trugen
Breeches, Frauen wagten sich in den Herrensattel, man verhüllte, man
versteckte sich nicht mehr voreinander. Die Welt war nicht nur schöner, sie
war auch freier geworden.
Es war die Gesundheit, das Selbstvertrauen des nach uns gekommenen
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286