Page - 151 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Image of the Page - 151 -
Text of the Page - 151 -
vier kleine Skulpturen herum, in zwei Minuten hatte ich sie gesehen. So griff
ich, um die Zeit nicht zu verlieren, nach einem Buch oder vielmehr nach ein
paar braunen Heften, die dort herumlagen. ›Cahiers de la Quinzaine‹ hießen
sie, und ich erinnerte mich, in Paris schon vordem diesen Titel gehört zu
haben. Aber wer konnte all die kleinen Revuen verfolgen, die da kreuz und
quer im Lande als kurzlebige idealistische Blüten auftauchten und wieder
verschwanden? Ich blätterte den Band an, ›L’Aube‹ von Romain Rolland, und
begann zu lesen, immer erstaunter und interessierter. Wer war dieser
Franzose, der Deutschland so kannte? Bald war ich der braven Russin
dankbar für ihre Unpünktlichkeit. Als sie endlich anrückte, war meine erste
Frage: »Wer ist dieser Romain Rolland?« Sie konnte nicht genaue Auskunft
geben, und erst als ich mir die übrigen Bände verschafft hatte (die letzten des
Werkes waren erst im Wachsen), wußte ich: hier war endlich das Werk, das
nicht einer einzelnen europäischen Nation diente, sondern allen und ihrer
Verbrüderung, hier war er, der Mann, der Dichter, der alle moralischen Kräfte
ins Spiel brachte: liebende Erkenntnis und ehrlichen Willen zur Erkenntnis,
geprüfte und gekelterte Gerechtigkeit und einen beschwingenden Glauben an
die verbindende Mission der Kunst. Während wir in kleinen Manifestationen
uns verzettelten, war er still und geduldig an die Tat gegangen, die Völker
einander in jenen Eigenschaften zu zeigen, wo sie individuell am
liebenswertesten waren; es war der erste bewußt europäische Roman, der hier
sich vollendete, der erste entscheidende Appell zur Verbrüderung, wirksamer,
weil breitere Massen erreichend, als die Hymnen Verhaerens, eindringlicher
als alle Pamphlete und Proteste; hier war, was wir alle unbewußt erhofft,
ersehnt, in der Stille vollbracht.
Mein erstes in Paris war, mich nach ihm zu erkundigen, indem ich Goethes
Wort gedachte: ›Er hat gelernt, er kann uns lehren.‹ Ich fragte die Freunde
nach ihm. Verhaeren meinte sich an ein Drama ›Die Wölfe‹ erinnern zu
können, das im sozialistischen ›Théâtre du Peuple‹ gespielt worden sei.
Bazalgette wieder hatte gehört, Rolland sei Musikologe und habe ein kleines
Buch über Beethoven geschrieben; im Katalog der Nationalbibliothek fand
ich ein Dutzend Werke über alte und moderne Musik, sieben oder acht
Dramen, alle bei kleinen Verlegern oder in den ›Cahiers de la Quinzaine‹
erschienen. Schließlich sandte ich, um eine Anknüpfung zu finden, ihm ein
Buch von mir. Bald kam ein Brief, der mich zu ihm bat, und so begann eine
Freundschaft, die neben einer mit Freud und Verhaeren die fruchtbarste und in
manchen Stunden sogar wegentscheidende meines Lebens ward.
Merktage des Lebens haben stärkere Leuchtkraft in sich als die
gewöhnlichen. So erinnere ich mich noch mit äußerster Deutlichkeit an diesen
151
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286