Page - 152 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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ersten Besuch. Fünf schmalgewundene Treppen eines unscheinbaren
Hauses nahe beim Boulevard Montparnasse empor, und schon vor der Tür
fühlte ich eine besondere Stille; man hörte das Brausen des Boulevards kaum
mehr als den Wind, der unter den Fenstern durch die Bäume eines alten
Klostergartens strich. Rolland tat mir auf und führte mich in sein kleines, mit
Büchern bis zur Decke vollgeräumtes Gemach; zum erstenmal sah ich in
seine merkwürdig leuchtenden blauen Augen, die klarsten und zugleich
gütigsten Augen, die ich je an einem Menschen gesehen, diese Augen, die im
Gespräch Farbe und Feuer aus dem innersten Gefühl ziehen, dunkel sich
verschattend in der Trauer, gleichsam tiefer werdend im Nachdenken,
funkelnd in der Erregung, diese einzigen Pupillen zwischen etwas
übermüdeten, von Lesen und Wachen leicht geröteten Lidrändern, die
wunderbar aufzustrahlen vermögen in einem mitteilsamen und beglückenden
Licht. Ich beobachtete etwas ängstlich seine Gestalt. Sehr hoch und schlank,
ging er ein wenig gebückt, als hätten die unzähligen Stunden am Schreibtisch
ihm den Nacken gebeugt; er sah eher kränklich aus mit seinen
scharfgeschnittenen Zügen bleichester Farbe. Er sprach sehr leise, wie er
überhaupt seinen Körper auf das äußerste schonte; er ging fast nie spazieren;
aß wenig, trank und rauchte nicht, vermied jede körperliche Anspannung,
aber mit Bewunderung mußte ich später erkennen, welche ungeheure
Ausdauer diesem asketischen Leibe innewohnte, welche geistige Arbeitskraft
hinter dieser scheinbaren Schwäche lag. Stundenlang schrieb er an seinem
kleinen, überhäuften Schreibtisch, stundenlang las er im Bette, seinem
abgemüdeten Leibe nie mehr Schlaf gebend als vier oder fünf Stunden, und
als einzige Entspannung erlaubte er sich die Musik; er spielte wunderbar
Klavier mit einem mir unvergeßlich zarten Anschlag, die Tasten liebkosend,
als wollte er ihnen die Töne nicht abzwingen, sondern nur ablocken. Kein
Virtuose – und ich habe Max Reger, Busoni, Bruno Walter im engsten Kreise
gehört – gab mir so sehr das Gefühl der unmittelbaren Kommunikation mit
den geliebten Meistern.
Sein Wissen war beschämend vielfältig; eigentlich nur mit dem lesenden
Auge lebend, beherrschte er die Literatur, die Philosophie, die Geschichte, die
Probleme aller Länder und Zeiten. Er kannte jeden Takt in der Musik; selbst
die entlegensten Werke von Galuppi, Telemann und auch von Musikern
sechsten und siebenten Ranges waren ihm vertraut; dabei nahm er
leidenschaftlich teil an jedem Geschehen der Gegenwart. In dieser
mönchisch-schlichten Zelle spiegelte sich wie in einer Camera Obscura die
Welt. Er hatte menschlich die Vertrautheit der Großen seiner Zeit genossen,
war Schüler Renans gewesen, Gast im Hause Wagners, Freund von Jaurès;
Tolstoi hatte an ihn jenen berühmten Brief gerichtet, der als menschliches
Bekenntnis seinem literarischen Werke würdig zur Seite steht. Hier spürte ich
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286