Page - 153 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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– und das löst immer für mich ein Glücksgefühl aus – menschliche,
moralische Überlegenheit, eine innere Freiheit ohne Stolz, Freiheit als
Selbstverständlichkeit einer starken Seele. Auf den ersten Blick erkannte ich
in ihm – und die Zeit hat mir recht gegeben – den Mann, der in
entscheidender Stunde das Gewissen Europas sein würde. Wir sprachen über
›Jean Christophe‹. Rolland erklärte mir, er habe versucht, damit eine
dreifache Pflicht zu erfüllen, seinen Dank an die Musik, sein Bekenntnis zur
europäischen Einheit und einen Aufruhr an die Völker zur Besinnung. Wir
müßten jetzt jeder wirken, jeder von seiner Stelle aus, jeder von seinem Land,
jeder in seiner Sprache. Es sei Zeit, wachsam zu werden und immer
wachsamer. Die Kräfte, die zum Haß drängten, seien ihrer niederen Natur
gemäß vehementer und aggressiver als die versöhnlichen; auch stünden hinter
ihnen materielle Interessen, die an sich bedenkenloser seien als die unseren.
Der Widersinn sei sichtbar am Werke und Kampf gegen ihn wichtiger sogar
als unsere Kunst. Ich spürte die Trauer über die Brüchigkeit der irdischen
Struktur doppelt ergreifend an einem Manne, der in seinem ganzen Werke die
Unvergänglichkeit der Kunst gefeiert. »Sie kann uns trösten, uns, die
Einzelnen«, antwortete er mir, »aber sie vermag nichts gegen die
Wirklichkeit.«
Das war im Jahre 1913. Es war das erste Gespräch, aus dem ich erkannte,
daß es unsere Pflicht sei, nicht unvorbereitet und untätig der immerhin
möglichen Tatsache eines europäischen Krieges entgegenzutreten; nichts gab
im entscheidenden Augenblick dann Rolland eine solche ungeheure
moralische Überlegenheit über alle andern, als daß er sich im voraus bereits
die Seele schmerzhaft gefestigt hatte. Wir in unserem Kreise mochten
gleichfalls einiges getan haben, ich hatte vieles übersetzt, auf die Dichter
unter unseren Nachbarn hingewiesen, ich hatte Verhaeren 1912 auf einer
Vortragsreise durch ganz Deutschland begleitet, die sich zu einer
symbolischen deutsch-französischen Verbrüderungsmanifestation gestaltete:
in Hamburg umarmten sich öffentlich Verhaeren und Dehmel, der größte
französische und der große deutsche Lyriker. Ich hatte Reinhardt für
Verhaerens neues Drama gewonnen, nie war unsere Zusammenarbeit hüben
und drüben herzlicher, intensiver, impulsiver gewesen, und in manchen
Stunden des Enthusiasmus gaben wir uns der Täuschung hin, wir hätten der
Welt das Richtige, das Rettende gezeigt. Aber die Welt kümmerte sich wenig
um solche literarischen Manifestationen, sie ging ihren eigenen schlimmen
Weg. Irgendein elektrisches Knistern war im Gebälk von unsichtbaren
Reibungen, immer wieder sprang ein Funke ab – die Affäre von Zabern, die
Krisen in Albanien, ein ungeschicktes Interview –, immer nur gerade ein
Funke, aber jeder hätte den gehäuften Explosionsstoff zur Entladung bringen
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286