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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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– und das löst immer für mich ein Glücksgefühl aus – menschliche, moralische Überlegenheit, eine innere Freiheit ohne Stolz, Freiheit als Selbstverständlichkeit einer starken Seele. Auf den ersten Blick erkannte ich in ihm – und die Zeit hat mir recht gegeben – den Mann, der in entscheidender Stunde das Gewissen Europas sein würde. Wir sprachen über ›Jean Christophe‹. Rolland erklärte mir, er habe versucht, damit eine dreifache Pflicht zu erfüllen, seinen Dank an die Musik, sein Bekenntnis zur europäischen Einheit und einen Aufruhr an die Völker zur Besinnung. Wir müßten jetzt jeder wirken, jeder von seiner Stelle aus, jeder von seinem Land, jeder in seiner Sprache. Es sei Zeit, wachsam zu werden und immer wachsamer. Die Kräfte, die zum Haß drängten, seien ihrer niederen Natur gemäß vehementer und aggressiver als die versöhnlichen; auch stünden hinter ihnen materielle Interessen, die an sich bedenkenloser seien als die unseren. Der Widersinn sei sichtbar am Werke und Kampf gegen ihn wichtiger sogar als unsere Kunst. Ich spürte die Trauer über die Brüchigkeit der irdischen Struktur doppelt ergreifend an einem Manne, der in seinem ganzen Werke die Unvergänglichkeit der Kunst gefeiert. »Sie kann uns trösten, uns, die Einzelnen«, antwortete er mir, »aber sie vermag nichts gegen die Wirklichkeit.« Das war im Jahre 1913. Es war das erste Gespräch, aus dem ich erkannte, daß es unsere Pflicht sei, nicht unvorbereitet und untätig der immerhin möglichen Tatsache eines europäischen Krieges entgegenzutreten; nichts gab im entscheidenden Augenblick dann Rolland eine solche ungeheure moralische Überlegenheit über alle andern, als daß er sich im voraus bereits die Seele schmerzhaft gefestigt hatte. Wir in unserem Kreise mochten gleichfalls einiges getan haben, ich hatte vieles übersetzt, auf die Dichter unter unseren Nachbarn hingewiesen, ich hatte Verhaeren 1912 auf einer Vortragsreise durch ganz Deutschland begleitet, die sich zu einer symbolischen deutsch-französischen Verbrüderungsmanifestation gestaltete: in Hamburg umarmten sich öffentlich Verhaeren und Dehmel, der größte französische und der große deutsche Lyriker. Ich hatte Reinhardt für Verhaerens neues Drama gewonnen, nie war unsere Zusammenarbeit hüben und drüben herzlicher, intensiver, impulsiver gewesen, und in manchen Stunden des Enthusiasmus gaben wir uns der Täuschung hin, wir hätten der Welt das Richtige, das Rettende gezeigt. Aber die Welt kümmerte sich wenig um solche literarischen Manifestationen, sie ging ihren eigenen schlimmen Weg. Irgendein elektrisches Knistern war im Gebälk von unsichtbaren Reibungen, immer wieder sprang ein Funke ab – die Affäre von Zabern, die Krisen in Albanien, ein ungeschicktes Interview –, immer nur gerade ein Funke, aber jeder hätte den gehäuften Explosionsstoff zur Entladung bringen 153
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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