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Generalstabs über diesen Verrat war fürchterlich; Oberst Redl als oberstem
Fachmann oblag nun die Aufgabe, den Verräter zu entdecken, der ja nur im
allerengsten höchsten Kreise zu finden sein konnte. Auch das
Außenministerium, dem Geschick der Militärbehörden nicht ganz vertrauend,
gab – ein typisches Beispiel für das eifersüchtige Gegeneinanderspielen der
Ressorts –, ohne den Generalstab zu verständigen, seinerseits Parole aus,
unabhängig nachzuforschen, und beauftragte die Polizei, neben allen anderen
Maßnahmen zu diesem Behufe alle poste restante Briefe aus dem Ausland
ohne Rücksicht auf das Briefgeheimnis zu öffnen.
Eines Tages traf nun bei einem Postamt ein Brief aus der russischen
Grenzstation Podwoloczyska an die poste restante Adresse Chiffre
›Opernball‹ ein, der, als er geöffnet wurde, kein Briefblatt enthielt, dagegen
sechs oder acht blanke österreichische Tausendkronennoten. Sofort wurde
dieser verdächtige Fund der Polizeidirektion gemeldet, die Auftrag gab, einen
Detektiv an den Schalter zu setzen, um die Person, welche jenen verdächtigen
Brief reklamieren würde, unverzüglich zu verhaften.
Für einen Augenblick begann sich die Tragödie ins Wienerisch-Gemütliche
zu wenden. Zur Mittagsstunde erschien ein Herr, verlangte den Brief unter der
Bezeichnung ›Opernball‹. Der Schalterbeamte gab sofort das verdeckte
Warnungssignal an den Detektiv. Aber der Detektiv war gerade zum
Frühschoppen gegangen, und als er zurückkam, konnte man nur mehr
feststellen, daß der fremde Herr einen Fiaker genommen habe und in
unbekannter Richtung weggefahren sei. Rasch aber setzte der zweite Akt der
wienerischen Komödie ein. In jener Zeit der Fiaker, dieser fashionablen,
eleganten Zweispänner, betrachtete sich der Fiakerkutscher als eine viel zu
vornehme Persönlichkeit, um seinen Wagen eigenhändig zu reinigen. An
jedem Standplatz befand sich daher ein sogenannter ›Wasserer‹, dessen
Funktion es war, die Pferde zu füttern und das Zeug zu waschen. Dieser
Wasserer hatte sich nun glücklicherweise die Nummer des Fiakers gemerkt,
der eben weggefahren war; in einer Viertelstunde waren alle Polizeiämter
alarmiert, der Fiaker aufgefunden. Er gab eine Beschreibung des Herrn, der in
jenes Café Kaiserhof gefahren war, wo ich immer Oberst Redl traf, und
überdies fand man noch im Wagen durch einen glücklichen Zufall das
Taschenmesser, mit dem der Unbekannte das Briefcouvert geöffnet hatte. Die
Detektive sausten sofort ins Café Kaiserhof. Der Herr, dessen Beschreibung
sie gaben, war inzwischen schon wieder fort. Aber mit größter
Selbstverständlichkeit erklärten die Kellner, der Herr sei niemand anderer als
ihr alter Stammgast, der Oberst Redl gewesen, und der sei eben
zurückgefahren in das Hotel Klomser.
Der Detektiv erstarrte. Das Geheimnis war gelöst. Oberst Redl, der höchste
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286