Page - 164 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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warm über dem friedlichen Land.
Aber die schlimmen Nachrichten häuften sich und wurden immer
bedrohlicher. Erst das Ultimatum Österreichs an Serbien, die ausweichende
Antwort darauf, Telegramme zwischen den Monarchen und schließlich die
kaum mehr verborgenen Mobilisationen. Es hielt mich nicht mehr länger in
dem engen, abgelegenen Ort. Ich fuhr jeden Tag mit der kleinen elektrischen
Bahn nach Ostende hinüber, um den Nachrichten näher zu sein; und sie
wurden immer schlimmer. Noch badeten die Leute, noch waren die Hotels
voll, noch drängten sich auf der Digue promenierende, lachende, schwatzende
Sommergäste. Aber zum erstenmal schob sich etwas Neues dazwischen.
Plötzlich sah man belgische Soldaten auftauchen, die sonst nie den Strand
betraten. Maschinengewehre wurden – eine sonderbare Eigenheit der
belgischen Armee – von Hunden auf kleinen Wagen gezogen.
Ich saß damals in einem Café mit einigen belgischen Freunden zusammen,
einem jungen Maler und dem Dichter Crommelynck. Wir hatten den
Nachmittag bei James Ensor verbracht, dem größten modernen Maler
Belgiens, einem sehr sonderbaren, einsiedlerischen und verschlossenen Mann,
der viel stolzer war auf die kleinen schlechten Polkas und Walzer, die er für
Militärkapellen komponierte, als auf seine phantastischen, in schimmernden
Farben entworfenen Gemälde. Er hatte uns seine Werke gezeigt, eigentlich
ziemlich widerwillig, denn ihn bedrückte skurrilerweise der Gedanke, es
möchte ihm jemand eines abkaufen. Sein Traum war eigentlich, wie mir die
Freunde lachend erzählten, sie teuer zu verkaufen, aber doch zugleich dann
alle behalten zu dürfen, denn er hing mit derselben Gier am Gelde wie an
jedem seiner Werke. Immer, wenn er eines abgegeben, blieb er ein paar Tage
verzweifelt. Mit all seinen merkwürdigen Schrullen hatte dieser geniale
Harpagon uns heiter gemacht; und als gerade wieder so ein Trupp Soldaten
mit dem hundebespannten Maschinengewehr vorüberzog, stand einer von uns
auf und streichelte den Hund, sehr zum Ärger des begleitenden Offiziers, der
befürchtete, daß durch diese Liebkosung eines kriegerischen Objekts die
Würde einer militärischen Institution geschädigt werden könnte. »Wozu
dieses dumme Herummarschieren?« murrte einer in unserem Kreise. Aber ein
anderer antwortete erregt: »Man muß doch seine Vorkehrungen treffen. Es
heißt, daß die Deutschen im Falle eines Krieges bei uns durchbrechen
wollen.« »Ausgeschlossen!« sagte ich mit ehrlicher Überzeugung, denn in
jener alten Welt glaubte man noch an die Heiligkeit von Verträgen. »Wenn
etwas passieren sollte und Frankreich und Deutschland sich gegenseitig bis
auf den letzten Mann vernichten, werdet ihr Belgier ruhig im Trockenen
sitzen!« Aber unser Pessimist gab nicht nach. Das müsse einen Sinn haben,
sagte er, wenn man in Belgien solche Maßnahmen anordne. Schon vor Jahren
hätte man Wind von einem geheimen Plan des deutschen Generalstabs
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286