Page - 165 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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bekommen, im Falle einer Attacke auf Frankreich trotz allen beschworenen
Verträgen in Belgien durchzustoßen. Aber ich gab gleichfalls nicht nach. Mir
schien es völlig absurd, daß, während Tausende und Zehntausende von
Deutschen hier lässig und fröhlich die Gastfreundschaft dieses kleinen,
unbeteiligten Landes genossen, an der Grenze eine Armee einbruchsbereit
stehen sollte. »Unsinn!« sagte ich. »Hier an dieser Laterne könnt ihr mich
aufhängen, wenn die Deutschen in Belgien einmarschieren!« Ich muß meinen
Freunden noch heute dankbar sein, daß sie mich später nicht beim Wort
genommen haben.
Aber dann kamen die allerletzten kritischen Julitage und jede Stunde eine
andere widersprechende Nachricht, die Telegramme des Kaisers Wilhelm an
den Zaren, die Telegramme des Zaren an Kaiser Wilhelm, die
Kriegserklärung Österreichs an Serbien, die Ermordung von Jaurès. Man
spürte, es wurde ernst. Mit einemmal wehte ein kalter Wind von Angst über
den Strand und fegte ihn leer. Zu Tausenden verließen die Leute die Hotels,
die Züge wurden gestürmt, selbst die Gutgläubigsten begannen jetzt
schleunigst ihre Koffer zu packen. Auch ich sicherte mir, kaum daß ich die
Nachricht von der österreichischen Kriegserklärung an Serbien hörte, ein
Billett, und es war wahrhaftig Zeit. Denn dieser Ostendeexpreß wurde der
letzte Zug, der aus Belgien nach Deutschland ging. Wir standen in den
Gängen, aufgeregt und voll Ungeduld, jeder sprach mit dem andern. Niemand
vermochte ruhig sitzen zu bleiben oder zu lesen, an jeder Station stürzte man
heraus, um neue Nachrichten zu holen, voll der geheimnisvollen Hoffnung,
daß irgend eine entschlossene Hand das entfesselte Schicksal noch
zurückreißen könnte. Noch immer glaubte man nicht an den Krieg und noch
weniger an einen Einbruch in Belgien; man konnte es nicht glauben, weil man
einen solchen Irrwitz nicht glauben wollte. Allmählich näherte der Zug sich
der Grenze, wir passierten Verviers, die belgische Grenzstation. Deutsche
Schaffner stiegen ein, in zehn Minuten sollten wir auf deutschem Gebiet sein.
Aber auf dem halben Wege nach Herbesthal, der ersten deutschen Station,
blieb plötzlich der Zug auf freiem Felde stehen. Wir drängten in den Gängen
zu den Fenstern. Was war geschehen? Und da sah ich im Dunklen einen
Lastzug nach dem andern uns entgegenkommen, offene Waggons, mit
Plachen bedeckt, unter denen ich undeutlich die drohenden Formen von
Kanonen zu erkennen glaubte. Mir stockte das Herz. Das mußte der
Vormarsch der deutschen Armee sein. Aber vielleicht, tröstete ich mich, war
es doch nur eine Schutzmaßnahme, nur eine Drohung mit Mobilisation und
nicht die Mobilisation selbst. Immer wird ja in den Stunden der Gefahr der
Wille, noch einmal zu hoffen, riesengroß. Endlich kam das Signal ›Strecke
frei‹ der Zug rollte weiter und lief in der Station Herbesthal ein. Ich sprang
mit einem Ruck die Stufen hinunter, eine Zeitung zu holen und
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286