Page - 166 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Erkundigungen einzuziehen. Aber der Bahnhof war besetzt von Militär. Als
ich in den Wartesaal eintreten wollte, stand vor der verschlossenen Tür
abwehrend ein Beamter, weißbärtig und streng: niemand dürfe die
Bahnhofsräume betreten. Aber ich hatte schon hinter den sorgfältig
verhängten Glasscheiben der Tür das leise Klirren und Klinkern von Säbeln,
das harte Niederstellen von Kolben gehört. Kein Zweifel, das Ungeheuerliche
war im Gang, der deutsche Einbruch in Belgien wider aller Satzung des
Völkerrechts. Schaudernd stieg ich wieder in den Zug und fuhr weiter, nach
Österreich zurück. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: ich fuhr in den Krieg.
Am nächsten Morgen in Österreich! In jeder Station klebten die Anschläge,
welche die allgemeine Mobilisation angekündigt hatten. Die Züge füllten sich
mit frisch eingerückten Rekruten, Fahnen wehten. Musik dröhnte, in Wien
fand ich die ganze Stadt in einem Taumel. Der erste Schrecken über den
Krieg, den niemand gewollt, nicht die Völker, nicht die Regierung, diesen
Krieg, der den Diplomaten, die damit spielten und blufften, gegen ihre eigene
Absicht aus der ungeschickten Hand gerutscht war, war umgeschlagen in
einen plötzlichen Enthusiasmus. Aufzüge formten sich in den Straßen,
plötzlich loderten überall Fahnen, Bänder und Musik, die jungen Rekruten
marschierten im Triumph dahin, und ihre Gesichter waren hell, weil man
ihnen zujubelte, ihnen, den kleinen Menschen des Alltags, die sonst niemand
beachtet und gefeiert.
Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muß ich bekennen, daß in diesem
ersten Aufbruch der Massen etwas Großartiges, Hinreißendes und sogar
Verführerisches lag, dem man sich schwer entziehen konnte. Und trotz allem
Haß und Abscheu gegen den Krieg möchte ich die Erinnerung an diese ersten
Tage in meinem Leben nicht missen: Wie nie fühlten die Tausende und
Hunderttausende Menschen, was sie besser im Frieden hätten fühlen sollen:
daß sie zusammengehörten. Eine Stadt von zwei Millionen, ein Land von fast
fünfzig Millionen empfanden in dieser Stunde, daß sie Weltgeschichte, daß
sie einen nie wiederkehrenden Augenblick miterlebten und daß jeder
aufgerufen war, sein winziges Ich in diese glühende Masse zu schleudern, um
sich dort von aller Eigensucht zu läutern. Alle Unterschiede der Stände, der
Sprachen, der Klassen, der Religionen waren überflutet für diesen einen
Augenblick von dem strömenden Gefühl der Brüderlichkeit. Fremde sprachen
sich an auf der Straße, Menschen, die sich jahrelang auswichen, schüttelten
einander die Hände, überall sah man belebte Gesichter. Jeder einzelne erlebte
eine Steigerung seines Ichs, er war nicht mehr der isolierte Mensch von
früher, er war eingetan in eine Masse, er war Volk, und seine Person, seine
sonst unbeachtete Person hatte einen Sinn bekommen. Der kleine Postbeamte,
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286