Page - 167 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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der sonst von früh bis nachts Briefe sortierte, immer wieder sortierte, von
Montag bis Samstag ununterbrochen sortierte, der Schreiber, der Schuster
hatte plötzlich eine andere, eine romantische Möglichkeit in seinem Leben: er
konnte Held werden, und jeden, der eine Uniform trug, feierten schon die
Frauen, grüßten ehrfürchtig die Zurückbleibenden im voraus mit diesem
romantischen Namen. Sie anerkannten die unbekannte Macht, die sie aus
ihrem Alltag heraushob; selbst die Trauer der Mütter, die Angst der Frauen
schämte sich in diesen Stunden des ersten Überschwangs, ihr doch allzu
natürliches Gefühl zu bekunden. Vielleicht aber war in diesem Rausch noch
eine tiefere, eine geheimnisvollere Macht am Werke. So gewaltig, so plötzlich
brach diese Sturzwelle über die Menschheit herein, daß sie, die Oberfläche
überschäumend, die dunklen, die unbewußten Urtriebe und Instinkte des
Menschtiers nach oben riß, das, was Freud tiefsehend ›die Unlust an der
Kultur‹ nannte, das Verlangen, einmal aus der bürgerlichen Welt der Gesetze
und Paragraphen auszubrechen und die uralten Blutinstinkte auszutoben.
Vielleicht hatten auch diese dunklen Mächte ihren Teil an dem wilden
Rausch, in dem alles gemischt war, Opferfreude und Alkohol, Abenteuerlust
und reine Gläubigkeit, die alte Magie der Fahnen und der patriotischen Worte
– diesem unheimlichen, in Worten kaum zu schildernden Rausch von
Millionen, der für einen Augenblick dem größten Verbrechen unserer Zeit
einen wilden und fast hinreißenden Schwung gab.
Die Generation von heute, die nur den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs
mitangesehen, fragt sich vielleicht: warum haben wir das nicht erlebt? Warum
loderten 1939 die Massen nicht mehr in gleicher Begeisterung auf wie 1914?
Warum gehorchten sie dem Anruf nur ernst und entschlossen, schweigsam
und fatalistisch? Galt es nicht dasselbe, ging es eigentlich nicht noch um
mehr, um Heiligeres, um Höheres in diesem unseren gegenwärtigen Kriege,
der ein Krieg der Ideen war und nicht bloß einer um Grenzen und Kolonien?
Die Antwort ist einfach: weil unsere Welt von 1939 nicht mehr über so viel
kindlich-naive Gläubigkeit verfügte wie jene von 1914. Damals vertraute das
Volk noch unbedenklich seinen Autoritäten; niemand in Österreich hätte den
Gedanken gewagt, der allverehrte Landesvater Kaiser Franz Joseph hätte in
seinem vierundachtzigsten Jahr sein Volk zum Kampf aufgerufen ohne
äußerste Nötigung, er hätte das Blutopfer gefordert, wenn nicht böse,
tückische, verbrecherische Gegner den Frieden des Reichs bedrohten. Die
Deutschen wiederum hatten die Telegramme ihres Kaisers an den Zaren
gelesen, in denen er um den Frieden kämpfte; ein gewaltiger Respekt vor den
›Oberen‹, vor den Ministern, vor den Diplomaten und vor ihrer Einsicht, ihrer
Ehrlichkeit beseelte noch den einfachen Mann. Wenn es zum Kriege
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286