Page - 169 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Erregende in ihrem Leben versäumen; deshalb drängten sie ungestüm zu den
Fahnen, deshalb jubelten und sangen sie in den Zügen, die sie zur
Schlachtbank führten, wild und fiebernd strömte die rote Blutwelle durch die
Adern des ganzen Reichs. Die Generation von 1939 aber kannte den Krieg.
Sie täuschte sich nicht mehr. Sie wußte, daß er nicht romantisch war, sondern
barbarisch. Sie wußte, daß er Jahre und Jahre dauern würde, unersetzliche
Spanne des Lebens. Sie wußte, daß man nicht mit Eichenlaub und bunten
Bändern geschmückt dem Feind entgegenstürmte, sondern verlaust und halb
verdurstet wochenlang in Gräben und Quartieren lungerte, daß man
zerschmettert und verstümmelt wurde aus der Ferne, ohne dem Gegner je ins
Auge gesehen zu haben. Man kannte im voraus aus den Zeitungen, aus den
Kinos die neuen technisch-teuflischen Vernichtungskünste, man wußte, daß
die riesigen Tanks auf ihrem Weg den Verwundeten zermalmten und die
Aeroplane Frauen und Kinder in ihren Betten zerschmetterten, man wußte,
daß ein Weltkrieg 1939 dank seiner seelenlosen Maschinisierung tausendmal
gemeiner, bestialischer, unmenschlicher sein würde als alle früheren Kriege
der Menschheit. Kein einziger der Generation von 1939 glaubte mehr an eine
von Gott gewollte Gerechtigkeit des Krieges, und schlimmer: man glaubte
nicht einmal mehr an die Gerechtigkeit und Dauerhaftigkeit des Friedens, den
er erkämpfen sollte. Denn man erinnerte sich zu deutlich noch an alle die
Enttäuschungen, die der letzte gebracht: Verelendung statt Bereicherung,
Verbitterung statt Befriedigung, Hungersnot, Geldentwertung, Revolten,
Verlust der bürgerlichen Freiheit, Versklavung an den Staat, eine
nervenzerstörende Unsicherheit, das Mißtrauen aller gegen alle.
Das schuf den Unterschied. Der Krieg von 1939 hatte einen geistigen Sinn,
es ging um die Freiheit, um die Bewahrung eines moralischen Guts; und um
einen Sinn zu kämpfen, macht den Menschen hart und entschlossen. Der
Krieg von 1914 dagegen wußte nichts von den Wirklichkeiten, er diente noch
einem Wahn, dem Traum einer besseren, einer gerechten und friedlichen
Welt. Und nur der Wahn, nicht das Wissen macht glücklich. Darum gingen,
darum jubelten damals die Opfer trunken der Schlachtbank entgegen, mit
Blumen bekränzt und mit Eichenlaub auf den Helmen, und die Straßen
dröhnten und leuchteten wie bei einem Fest.
Daß ich selbst diesem plötzlichen Rausch des Patriotismus nicht erlag,
hatte ich keineswegs einer besonderen Nüchternheit oder Klarsichtigkeit zu
verdanken, sondern der bisherigen Form meines Lebens. Ich war zwei Tage
vorher noch im ›Feindesland‹ gewesen und hatte mich somit überzeugen
können, daß die großen Massen in Belgien genau so friedlich und ahnungslos
gewesen wie unsere eigenen Leute. Außerdem hatte ich zu lange
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286