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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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kosmopolitisch gelebt, um über Nacht eine Welt plötzlich hassen zu können, die ebenso die meine war wie mein Vaterland. Ich hatte seit Jahren der Politik mißtraut und gerade in den letzten Jahren in unzähligen Gesprächen mit meinen französischen, meinen italienischen Freunden den Widersinn einer kriegerischen Möglichkeit erörtert. So war ich gewissermaßen geimpft mit Mißtrauen gegen die Infektion patriotischer Begeisterung, und vorbereitet wie ich war gegen diesen Fieberanfall der ersten Stunde, blieb ich entschlossen, meine Überzeugung von der notwendigen Einheit Europas nicht erschüttern zu lassen durch einen von ungeschickten Diplomaten und brutalen Munitionsindustriellen herbeigeführten Bruderkampf. Innerlich war ich demzufolge vom ersten Augenblick an als Weltbürger gesichert; schwer war es, die richtige Haltung als Staatsbürger zu finden. Obwohl erst zweiunddreißig Jahre alt, hatte ich vorläufig keinerlei militärische Pflichten, da ich bei allen Assentierungen als untauglich erklärt worden war, worüber ich schon seinerzeit herzlich froh gewesen. Erstens ersparte mir diese Zurückstellung ein mit stupidem Kommißdienst vergeudetes Jahr, außerdem schien es mir ein verbrecherischer Anachronismus, im zwanzigsten Jahrhundert eingeübt zu werden in der Handhabung von Mord Werkzeugen. Die richtige Haltung für einen Mann meiner Überzeugung wäre gewesen, in einem Kriege mich als ›conscientious objector‹ zu erklären, was in Österreich (im Gegensatz zu England) mit den denkbar schwersten Strafen bedroht war und eine wirkliche Märtyrerfestigkeit der Seele forderte. Nun liegt – ich schäme mich nicht, diesen Defekt offen einzugestehen – meiner Natur das Heldische nicht. Meine natürliche Haltung in allen gefährlichen Situationen ist immer die ausweichende gewesen, und nicht nur bei diesem einen Anlaß mußte ich vielleicht mit Recht den Anwurf der Unentschiedenheit auf mich nehmen, den man meinem verehrten Meister in einem fremden Jahrhundert, Erasmus von Rotterdam, so häufig gemacht. Anderseits war es wieder unerträglich, in einer solchen Zeit als verhältnismäßig junger Mensch abzuwarten, bis man ihn herausscharrte aus seinem Dunkel und an irgendeine Stelle warf, an die er nicht gehörte. So hielt ich Umschau nach einer Tätigkeit, wo ich immerhin etwas leisten konnte, ohne hetzerisch tätig zu sein, und der Umstand, daß einer meiner Freunde, ein höherer Offizier, im Kriegsarchiv war, ermöglichte mir, dort eingestellt zu werden. Ich hatte Bibliotheksdienst zu tun, wofür ich durch meine Sprachkenntnisse nützlich war, oder stilistisch manche der für die Öffentlichkeit bestimmten Mitteilungen zu verbessern –, gewiß keine ruhmreiche Tätigkeit, wie ich willig eingestehe, aber doch eine, die mir persönlich passender erschien, als einem russischen Bauern ein Bajonett in die Gedärme zu stoßen. Jedoch das Entscheidende für mich war, daß mir Zeit blieb nach diesem nicht sehr anstrengenden Dienst für jenen Dienst, der mir 170
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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