Page - 170 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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kosmopolitisch gelebt, um über Nacht eine Welt plötzlich hassen zu können,
die ebenso die meine war wie mein Vaterland. Ich hatte seit Jahren der Politik
mißtraut und gerade in den letzten Jahren in unzähligen Gesprächen mit
meinen französischen, meinen italienischen Freunden den Widersinn einer
kriegerischen Möglichkeit erörtert. So war ich gewissermaßen geimpft mit
Mißtrauen gegen die Infektion patriotischer Begeisterung, und vorbereitet wie
ich war gegen diesen Fieberanfall der ersten Stunde, blieb ich entschlossen,
meine Überzeugung von der notwendigen Einheit Europas nicht erschüttern
zu lassen durch einen von ungeschickten Diplomaten und brutalen
Munitionsindustriellen herbeigeführten Bruderkampf.
Innerlich war ich demzufolge vom ersten Augenblick an als Weltbürger
gesichert; schwer war es, die richtige Haltung als Staatsbürger zu finden.
Obwohl erst zweiunddreißig Jahre alt, hatte ich vorläufig keinerlei
militärische Pflichten, da ich bei allen Assentierungen als untauglich erklärt
worden war, worüber ich schon seinerzeit herzlich froh gewesen. Erstens
ersparte mir diese Zurückstellung ein mit stupidem Kommißdienst
vergeudetes Jahr, außerdem schien es mir ein verbrecherischer
Anachronismus, im zwanzigsten Jahrhundert eingeübt zu werden in der
Handhabung von Mord Werkzeugen. Die richtige Haltung für einen Mann
meiner Überzeugung wäre gewesen, in einem Kriege mich als ›conscientious
objector‹ zu erklären, was in Österreich (im Gegensatz zu England) mit den
denkbar schwersten Strafen bedroht war und eine wirkliche Märtyrerfestigkeit
der Seele forderte. Nun liegt – ich schäme mich nicht, diesen Defekt offen
einzugestehen – meiner Natur das Heldische nicht. Meine natürliche Haltung
in allen gefährlichen Situationen ist immer die ausweichende gewesen, und
nicht nur bei diesem einen Anlaß mußte ich vielleicht mit Recht den Anwurf
der Unentschiedenheit auf mich nehmen, den man meinem verehrten Meister
in einem fremden Jahrhundert, Erasmus von Rotterdam, so häufig gemacht.
Anderseits war es wieder unerträglich, in einer solchen Zeit als
verhältnismäßig junger Mensch abzuwarten, bis man ihn herausscharrte aus
seinem Dunkel und an irgendeine Stelle warf, an die er nicht gehörte. So hielt
ich Umschau nach einer Tätigkeit, wo ich immerhin etwas leisten konnte,
ohne hetzerisch tätig zu sein, und der Umstand, daß einer meiner Freunde, ein
höherer Offizier, im Kriegsarchiv war, ermöglichte mir, dort eingestellt zu
werden. Ich hatte Bibliotheksdienst zu tun, wofür ich durch meine
Sprachkenntnisse nützlich war, oder stilistisch manche der für die
Öffentlichkeit bestimmten Mitteilungen zu verbessern –, gewiß keine
ruhmreiche Tätigkeit, wie ich willig eingestehe, aber doch eine, die mir
persönlich passender erschien, als einem russischen Bauern ein Bajonett in
die Gedärme zu stoßen. Jedoch das Entscheidende für mich war, daß mir Zeit
blieb nach diesem nicht sehr anstrengenden Dienst für jenen Dienst, der mir
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286