Page - 171 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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der wichtigste in diesem Kriege war: der Dienst an der künftigen
Verständigung.
Schwieriger als die amtliche erwies sich meine Stellung innerhalb meines
Freundeskreises. Wenig europäisch geschult, ganz im deutschen Gesichtskreis
lebend, meinten die meisten unserer Dichter ihr Teil am besten zu tun, indem
sie die Begeisterung der Massen stärkten und die angebliche Schönheit des
Krieges mit dichterischem Appell oder wissenschaftlichen Ideologien
unterbauten. Fast alle deutschen Dichter, Hauptmann und Dehmel voran,
glaubten sich verpflichtet, wie in urgermanischen Zeiten als Barden die
vorrückenden Kämpfer mit Liedern und Runen zur Sterbebegeisterung
anzufeuern. Schockweise regneten Gedichte, die Krieg auf Sieg, Not auf Tod
reimten. Feierlich verschworen sich die Schriftsteller, nie mehr mit einem
Franzosen, nie mehr mit einem Engländer Kulturgemeinschaft haben zu
wollen, ja mehr noch: sie leugneten über Nacht, daß es je eine englische, eine
französische Kultur gegeben habe. All das sei gering und wertlos gegenüber
deutschem Wesen, deutscher Kunst und deutscher Art. Noch ärger trieben es
die Gelehrten. Die Philosophen wußten plötzlich keine andere Weisheit, als
den Krieg zu einem ›Stahlbad‹ zu erklären, das wohltätig die Kräfte der
Völker vor Erschlaffung bewahre. Ihnen zur Seite traten die Ärzte, die ihre
Prothesen derart überschwenglich priesen, daß man beinahe Lust hatte, sich
ein Bein amputieren zu lassen, um das gesunde durch solch ein künstliches
Gestell zu ersetzen. Die Priester aller Konfessionen wollten gleichfalls nicht
zurückbleiben und stimmten ein in den Chor; manchmal war es, als hörte man
eine Horde Besessener toben, und all diese Männer waren doch dieselben,
deren Vernunft, deren formende Kraft, deren menschliche Haltung wir vor
einer Woche, vor einem Monat noch bewundert.
Das Erschütterndste an diesem Wahnsinn aber war, daß die meisten dieser
Menschen ehrlich waren. Die meisten, zu alt oder körperlich unfähig,
militärischen Dienst zu tun, glaubten sich anständigerweise zu irgendeiner
mithelfenden ›Leistung‹ verpflichtet. Was sie geschaffen hatten, das
schuldeten sie der Sprache und damit dem Volk. So wollten sie ihrem Volk
durch die Sprache dienen und es das hören lassen, was es hören wollte: daß
das Recht einzig auf seiner Seite sei in diesem Kampf und das Unrecht auf
der andern, daß Deutschland siegen werde und die Gegner schmählich
unterliegen – völlig ahnungslos, daß sie damit die wahre Mission des Dichters
verrieten, der Wahrer und Verteidiger des Allmenschlichen im Menschen zu
sein. Manche freilich haben bald den bitteren Geschmack des Ekels vor ihrem
eigenen Wort auf der Zunge gespürt, als der Fusel der ersten Begeisterung
verraucht war. Aber in jenen ersten Monaten wurde am meisten gehört, wer
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286