Page - 173 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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er in einem ›Haßgesang gegen England‹ Ausdruck, einem Gedicht – ich habe
es nicht vor mir –, das in harten, knappen, eindrucksvollen Versen den Haß
gegen England zu dem ewigen Schwur erhob, England nie sein ›Verbrechen‹
zu verzeihen. Verhängnisvollerweise wurde bald offenbar, wie leicht es ist,
mit Haß zu arbeiten (dieser feiste, verblendete kleine Jude Lissauer nahm das
Beispiel Hitlers voraus). Das Gedicht fiel wie eine Bombe in ein
Munitionsdepot. Nie vielleicht hat ein Gedicht in Deutschland, selbst die
›Wacht am Rhein‹ nicht, so rasch die Runde gemacht wie dieser berüchtigte
›Haßgesang gegen England‹. Der Kaiser war begeistert und verlieh Lissauer
den Roten Adlerorden, man druckte das Gedicht in allen Zeitungen nach, die
Lehrer lasen es in den Schulen den Kindern vor, die Offiziere traten vor die
Front und rezitierten es den Soldaten, bis jeder die Haßlitanei auswendig
konnte. Aber nicht genug an dem. Das kleine Gedicht wurde, in Musik gesetzt
und zum Chor erweitert, in den Theatern vorgetragen; unter den siebzig
Millionen Deutschen gab es bald keinen einzigen Menschen mehr, der den
›Haßgesang gegen England‹ nicht von der ersten bis zur letzten Zeile kannte,
und bald kannte ihn – freilich mit weniger Begeisterung – die ganze Welt.
Über Nacht hatte Ernst Lissauer den feurigsten Ruhm, den sich ein Dichter je
in diesem Kriege erworben – freilich einen Ruhm, der später an ihm brannte
wie ein Nessushemd. Denn kaum daß der Krieg vorüber war und die
Kaufleute wieder Geschäfte machen wollten, die Politiker sich ehrlich um
Verständigung bemühten, tat man alles, um dieses Gedicht zu verleugnen, das
ewige Feindschaft mit England gefordert. Und um die eigene Mitschuld
abzuschieben, prangerte man den armen ›Haßlitanei‹ als den einzigen
Schuldigen an der irrsinnigen Haßhysterie an, die in Wirklichkeit 1914 alle
vom ersten bis zum letzten geteilt. Jeder wandte sich 1919 ostentativ von ihm
ab, der ihn 1914 noch gefeiert. Die Zeitungen druckten nicht mehr seine
Gedichte; wenn er unter den Kameraden erschien, entstand ein betroffenes
Schweigen. Aus dem Deutschland, an dem er mit allen Fasern seines Herzens
hing, ist der Verlassene dann von Hitler ausgetrieben worden und vergessen
gestorben, ein tragisches Opfer dieses einen Gedichts, das ihn so hoch nur
emporgehoben, um ihn dann um so tiefer zu zerschmettern.
So wie Lissauer waren sie alle. Sie haben ehrlich gefühlt und meinten
ehrlich zu handeln, diese Dichter, diese Professoren, diese plötzlichen
Patrioten von damals, ich leugne es nicht. Aber schon nach kürzester Zeit
wurde erkennbar, welches fürchterliche Unheil sie mit ihrer Lobpreisung des
Krieges und ihren Haßorgien anstifteten. Alle kriegführenden Völker
befanden sich 1914 ohnehin schon in einem Zustand der Überreizung; das
übelste Gerücht verwandelte sich sofort in Wahrheit, die absurdeste
Verleumdung wurde geglaubt. Zu Dutzenden schworen in Deutschland die
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286