Page - 174 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Menschen, sie hätten mit eigenen Augen knapp vor Kriegsausbruch
goldbeladene Automobile von Frankreich nach Rußland fahren sehen; die
Märchen von den ausgestochenen Augen und abgeschnittenen Händen, die
prompt in jedem Kriege am dritten oder vierten Tage einsetzen, füllten die
Zeitungen. Ach, sie wußten nicht, diese Ahnungslosen, welche solche Lügen
weitertrugen, daß die Technik, den feindlichen Soldaten jeder denkbaren
Grausamkeit zu beschuldigen, ebenso zum Kriegsmaterial gehört wie
Munition und Flugzeuge, und daß sie regelmäßig in jedem Kriege gleich in
den ersten Tagen aus den Magazinen geholt wird. Krieg läßt sich mit Vernunft
und gerechtem Gefühl nicht koordinieren. Er braucht einen gesteigerten
Zustand des Gefühls, er braucht Enthusiasmus für die eigene Sache und Haß
gegen den Gegner.
Nun liegt es in der menschlichen Natur, daß sich starke Gefühle nicht ins
Unendliche prolongieren lassen, weder in einem einzelnen Individuum noch
in einem Volke, und das weiß die militärische Organisation. Sie benötigt
darum eine künstliche Aufstachelung, ein ständiges ›doping› ‹‹ der Erregung,
und diesen Aufpeitschungsdienst sollten – mit gutem oder schlechtem
Gewissen, ehrlich oder aus fachlicher Routine – die Intellektuellen leisten, die
Dichter, die Schriftsteller, die Journalisten. Sie hatten die Haßtrommel
geschlagen und schlugen sie kräftig, bis jedem Unbefangenen die Ohren
gellten und das Herz erschauerte. Gehorsam dienten sie fast alle in
Deutschland, in Frankreich, in Italien, in Rußland, in Belgien der
›Kriegspropaganda‹ und damit dem Massenwahn und Massenhaß des
Krieges, statt ihn zu bekämpfen.
Die Folgen waren verheerend. Damals, da die Propaganda sich nicht schon
im Frieden abgenützt hatte, hielten die Völker trotz tausendfachen
Enttäuschungen alles, was gedruckt war, noch für wahr. Und so verwandelte
sich der reine, der schöne, der opfermutige Enthusiasmus der ersten Tage
allmählich in eine Orgie der schlimmsten und dümmsten Gefühle. Man
›bekämpfte‹ Frankreich und England in Wien und Berlin, auf der Ringstraße
und der Friedrichstraße, was bedeutend bequemer war. Die französischen, die
englischen Aufschriften auf den Geschäften mußten verschwinden, sogar ein
Kloster ›Zu den Englischen Fräulein‹ den Namen ändern, weil das Volk sich
erregte, ahnungslos, daß ›englisch‹ die Engel und nicht angelsächsisch
meinte. Auf die Briefumschläge klebten oder stempelten biedere
Geschäftsleute ›Gott strafe England‹, Frauen der Gesellschaft schworen (und
schrieben es den Zeitungen in Zuschriften), daß sie zeitlebens nie mehr ein
Wort französisch sprechen würden. Shakespeare wurde von den deutschen
Bühnen verbannt, Mozart und Wagner aus den französischen, den englischen
Musiksälen, die deutschen Professoren erklärten, Dante sei ein Germane, die
französischen, Beethoven sei ein Belgier gewesen, bedenkenlos requirierte
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286