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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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man geistiges Kulturgut aus den feindlichen Ländern wie Getreide und Erz. Nicht genug, daß sich täglich wechselseitig Tausende friedliche Bürger dieser Länder an der Front töteten, beschimpfte und begeiferte man wechselseitig im Hinterland die großen Toten der feindlichen Länder, die seit Hunderten Jahren stumm in ihren Gräbern lagen. Immer absurder wurde die Geistesverwirrung. Die Köchin am Herd, die nie über ihre Stadt hinausgekommen und seit der Schulzeit keinen Atlas aufgeschlagen, glaubte, daß Österreich nicht leben könne ohne den ›Sandschak‹ (ein kleines Grenzbezirkchen irgendwo in Bosnien). Die Kutscher stritten auf der Straße, welche Kriegsentschädigung man Frankreich auferlegen solle, fünfzig Milliarden oder hundert, ohne zu wissen, wieviel eine Milliarde ist. Keine Stadt, keine Gruppe, die nicht dieser grauenhaften Hysterie des Hasses verfiel. Die Priester predigten von den Altären, die Sozialdemokraten, die einen Monat vorher den Militarismus als das größte Verbrechen gebrandmarkt, lärmten womöglich noch mehr als die andern, um nicht nach Kaiser Wilhelms Wort als ›vaterlandslose Gesellen‹ zu gelten. Es war der Krieg einer ahnungslosen Generation, und gerade die unverbrauchte Gläubigkeit der Völker an die einseitige Gerechtigkeit ihrer Sache wurde die größte Gefahr. Allmählich wurde es in diesen ersten Kriegswochen von 1914 unmöglich, mit irgend jemandem ein vernünftiges Gespräch zu führen. Die Friedlichsten, die Gutmütigsten waren von dem Blutdunst wie betrunken. Freunde, die ich immer als entschiedene Individualisten und sogar als geistige Anarchisten gekannt, hatten sich über Nacht in fanatische Patrioten verwandelt und aus Patrioten in unersättliche Annexionisten. Jedes Gespräch endete in dummen Phrasen wie: »Wer nicht hassen kann, der kann auch nicht richtig lieben« oder in groben Verdächtigungen. Kameraden, mit denen ich seit Jahren nie einen Streit gehabt, beschuldigten mich ganz grob, ich sei kein Österreicher mehr; ich solle hinübergehen nach Frankreich oder Belgien. Ja, sie deuteten sogar vorsichtig an, daß man Ansichten wie jene, daß dieser Krieg ein Verbrechen sei, eigentlich zur Kenntnis der Behörden bringen sollte, denn ›Defaitisten‹ – das schöne Wort war eben in Frankreich erfunden worden – seien die schwersten Verbrecher am Vaterlande. Da blieb nur eins: sich in sich selbst zurückziehen und schweigen, solange die andern fieberten und tobten. Es war nicht leicht. Denn selbst im Exil – ich habe es zur Genüge kennengelernt – ist es nicht so schlimm zu leben wie allein im Vaterlande. In Wien hatte ich meine alten Freunde mir entfremdet, neue zu suchen war jetzt nicht die Zeit. Einzig mit Rainer Maria Rilke hatte ich manchmal ein Gespräch innigen Verstehens. Es war gelungen, ihn gleichfalls für unser abgelegenes Kriegsarchiv anzufordern, denn er wäre der unmöglichste Soldat gewesen mit seiner Überzartheit der Nerven, denen Schmutz, Geruch, Lärm wirkliche physische Übelkeit schufen. Immer muß 175
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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