Page - 179 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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geschriebene Wort, sie warteten darauf. Während 1939 keine einzige
Kundgebung eines Dichters weder im Guten noch im Bösen auch nur die
mindeste Wirkung zeitigte, während bis heute kein einziges Buch, keine
Broschüre, kein Aufsatz, kein Gedicht innerlich die Massen berührte oder gar
in ihrem Denken beeinflußte, vermochte 1914 ein vierzehnzeiliges Gedicht
wie jener ›Haßgesang‹ Lissauers, eine Manifestation wie jene törichte der ›93
deutschen Intellektuellem‹, und andererseits wieder ein Aufsatz von acht
Seiten wie Rollands ›Audessus de la mêlée‹, ein Roman wie Barbusses ›Le
Feu‹ Ereignis zu werden. Das moralische Weltgewissen war eben noch nicht
so übermüdet und ausgelaugt wie heute, es reagierte vehement auf jede
offenbare Lüge, auf jede Verletzung des Völkerrechts und der Humanität mit
der ganzen Kraft jahrhundertealter Überzeugung. Ein Rechtsbruch wie der
Einmarsch Deutschlands in das neutrale Belgien, der heute, seit Hitler die
Lüge zur Selbstverständlichkeit und die Antihumanität zum Gesetz erhoben,
kaum mehr ernstlich getadelt würde, konnte damals noch die Welt von einem
bis zum anderen Ende erregen. Die Erschießung der Nurse Cavell, die
Torpedierung der ›Lusitania‹ wurden dank des Ausbruchs universaler
moralischer Entrüstung für Deutschland verhängnisvoller als eine verlorene
Schlacht. Es war für den Dichter, den Schriftsteller also keineswegs
aussichtslos, zu sprechen in jener Zeit, da das Ohr und die Seele noch nicht
von den unablässig schwatzenden Wellen des Radios überströmt waren; im
Gegenteil: die spontane Manifestation eines großen Dichters übte tausendmal
mehr Wirkung als alle offiziellen Reden der Staatsmänner, von denen man
wußte, daß sie taktisch, politisch auf die Stunde eingestellt waren und
bestenfalls nur die halbe Wahrheit enthielten. Auch in diesem Sinne des
Vertrauens auf den Dichter als den besten Bürger reiner Gesinnung wohnte
noch unendlich mehr Gläubigkeit jener später so sehr enttäuschten –
Generation inne. Da sie aber um diese Autorität der Dichter wußten, suchten
ihrerseits die Militärs, die Amtsstellen alle Männer von moralischem, von
geistigem Prestige in ihren Aufputschungsdienst zu spannen: sie sollten
erklären, beweisen, bestätigen, beschwören, daß alles Unrecht, alles Böse auf
der anderen Seite angehäuft sei, alles Recht, alle Wahrheit der eigenen Nation
zu eigen. Bei Rolland gelang es ihnen nicht. Er sah seine Aufgabe nicht darin,
die haßschwüle, mit allen Aufputschungsmitteln überreizte Atmosphäre noch
zu steigern, sondern im Gegenteil, sie zu reinigen.
Wer heute die acht Seiten dieses berühmten Aufsatzes ›Au-dessus de la
mêlée‹ wieder liest, vermag seine immense Wirkung wahrscheinlich nicht
mehr zu verstehen; alles, was Rolland darin postulierte, meint, wenn mit
kühlen, klaren Sinnen gelesen, doch nur selbstverständlichste
Selbstverständlichkeit. Aber diese Worte waren in einer Zeit geistiger
Massentollheit gesprochen, die heute kaum mehr rekonstruierbar ist. Die
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286