Page - 182 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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ihn in der vorgeblichen Polemik bis auf das letzte Wort übersetzt abdruckte,
hatte er ihn glücklich nach Frankreich hinübergeschmuggelt, und jeder konnte
ihn (was die Absicht war) dort lesen. Auf solche Art gingen Blinklichter, die
nichts als Erinnerungszeichen waren, hinüber und herüber. Wie sehr sie von
denen, für die sie bestimmt waren, verstanden wurden, zeigte mir später eine
kleine Episode. Als Italien im Mai 1915 Österreich, seinem früheren
Bundesgenossen, den Krieg erklärte, sprang bei uns eine Haßwelle auf. Alles
Italienische wurde beschimpft. Zufällig waren nun die Erinnerungen eines
jungen Italieners aus der Zeit des Risorgimento namens Carl Poerio
erschienen, der einen Besuch bei Goethe schilderte. Ich schrieb, um inmitten
des Haßgeschreis darzutun, daß die Italiener mit unserer Kultur von je die
besten Zusammenhänge gehabt hätten, demonstrativ einen Aufsatz ›Ein
Italiener bei Goethe‹ und da dieses Buch von Benedetto Croce eingeleitet war,
nutzte ich den Anlaß, um Croce einige Worte höchsten Respekts zu widmen.
Bewundernde Worte für einen Italiener bedeuteten in Österreich zu einer Zeit,
da man keinem Dichter oder Gelehrten eines Feindeslandes eine
Anerkennung zollen sollte, selbstverständlich eine deutliche Demonstration,
und sie wurde bis über die Grenzen hinaus verstanden. Croce, der
damals [Fußnote]in Italien Minister war, erzählte mir später einmal, wie ein
Angestellter des Ministeriums, der selbst nicht Deutsch lesen konnte, ihm
etwas bestürzt mitteilte, in dem Hauptblatte des Kriegsgegners stehe etwas
gegen ihn (denn er konnte sich eine Erwähnung nicht anders als im Sinne der
Gegnerschaft erdenken). Croce ließ sich die ›Neue Freie Presse‹ kommen und
war zuerst erstaunt und dann im besten Sinne amüsiert, statt dessen eine
Reverenz zu finden.
Ich denke nun durchaus nicht daran, diese kleinen isolierten Versuche zu
überschätzen. Sie haben selbstverständlich auf den Gang der Ereignisse nicht
die geringste Wirkung geübt. Aber sie haben uns selbst – und manchen
unbekannten Lesern – geholfen. Sie haben die gräßliche Isoliertheit, die
seelische Verzweiflung gemildert, in der ein wirklich menschlich fühlender
Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts sich befand – und heute nach
fünfundzwanzig Jahren sich wieder befindet, ebenso machtlos gegen das
Übermächtige und, ich fürchte es, sogar noch mehr. Ich war mir schon damals
voll bewußt, daß ich mit diesen kleinen Protesten und Geschicklichkeiten
nicht die eigentliche Last von mir abzuwälzen vermochte; langsam begann
sich in mir der Plan eines Werks zu formen, in dem ich nicht nur Einzelnes
aussagen könnte, sondern meine ganze Einstellung zu Zeit und Volk, zu
Katastrophe und Krieg.
Um aber den Krieg in einer dichterischen Synthese darstellen zu können,
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286