Page - 183 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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fehlte mir eigentlich das Wichtigste: ich hatte ihn nicht gesehen. Ich saß jetzt
fast ein Jahr festgeankert in diesem Büro, und in einer unsichtbaren Ferne
ging das ›Eigentliche‹, das Wirkliche, das Grausige des Krieges vor sich.
Gelegenheit, an die Front zu fahren, war mir mehrmals geboten worden,
dreimal hatten mich große Zeitungen ersucht, als ihr Berichterstatter zur
Armee zu gehen. Aber jede Art Schilderung hätte die Verpflichtung mit sich
gebracht, den Krieg in einem ausschließlich positiven und patriotischen Sinne
darzustellen, und ich hatte mir geschworen – ein Eid, den ich auch 1940
gehalten habe – niemals ein Wort zu schreiben, das den Krieg bejahte oder
eine andere Nation herabsetzte. Nun ergab sich zufällig eine Gelegenheit. Die
große österreichisch-deutsche Offensive hatte im Frühjahr 1915 bei Tarnow
die russische Linie durchbrochen und Galizien und Polen in einem einzigen
konzentrischen Vorstoß erobert. Das Kriegsarchiv wollte nun für seine
Bibliothek die Originale all der russischen Proklamationen und Anschläge im
besetzten österreichischen Gebiet sammeln, ehe sie heruntergerissen oder
sonst vernichtet wurden. Der Oberst, der meine Sammlertechnik zufällig
kannte, fragte mich an, ob ich das besorgen wollte; ich griff selbstverständlich
sofort zu, und mir wurde ein Passepartout ausgestellt, so daß ich, ohne von
einer besonderen Behörde abhängig zu sein und ohne irgendeinem Amt oder
Vorgesetzten direkt zu unterstehen, mit jedem Militärzug reisen und mich frei
bewegen konnte, wohin ich wollte, was dann zu den sonderbarsten
Zwischenfällen führte: ich war nämlich nicht Offizier, sondern nur
Titularfeldwebel und trug eine Uniform ohne besondere Abzeichen. Wenn ich
mein geheimnisvolles Dokument vorzeigte, erweckte dies einen besonderen
Respekt, denn die Offiziere an der Front und die Beamten vermuteten, daß ich
irgendein verkleideter Generalstabsoffizier sein müsse oder sonst einen
mysteriösen Auftrag habe. Da ich auch die Offiziersmessen vermied und nur
in Hotels abstieg, gewann ich überdies den Vorzug, außerhalb der großen
Maschinerie zu stehen und ohne jede ›Führung‹ sehen zu können, was ich
sehen wollte.
Der eigentliche Auftrag, die Proklamationen zu sammeln, beschwerte mich
nicht sehr. Jedesmal, wenn ich in eine jener galizischen Städte kam, nach
Tarnow, nach Drohobycz, nach Lemberg, standen dort am Bahnhof einige
Juden, sogenannte ›Faktoren‹, deren Beruf es war, alles zu besorgen, was
immer man haben wollte; es genügte, daß ich einem dieser Universalpraktiker
sagte, ich wünschte die Proklamationen und Anschläge der russischen
Okkupation, und der Faktor lief wie ein Wiesel und vermittelte den Auftrag
auf geheimnisvollem Wege weiter an Dutzende von Unterfaktoren; nach drei
Stunden hatte ich, ohne selbst einen Schritt gegangen zu sein, das Material in
der denkbar schönsten Komplettheit beisammen. Dank dieser vorbildlichen
Organisation blieb mir Zeit, viel zu sehen, und ich sah viel. Ich sah vor allem
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286