Page - 185 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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das Furchtbarste waren die Lazarettzüge, die ich zwei- oder dreimal benutzen
mußte. Ach, wie wenig glichen sie jenen gut erhellten, weißen,
wohlgewaschenen Sanitätszügen, in denen sich die Erzherzoginnen und die
vornehmen Damen der Wiener Gesellschaft zu Anfang des Krieges als
Krankenpflegerinnen abbilden ließen! Was ich schauernd zu sehen bekam,
waren gewöhnliche Transportwagen ohne richtige Fenster, nur mit einer
schmalen Luftluke und innen von verrußten Öllampen erhellt. Eine primitive
Tragbahre stand neben der andern, und alle waren sie belegt mit stöhnenden,
schwitzenden, todfahlen Menschen, die nach Luft röchelten in dem dicken
Geruch von Exkrementen und Jodoform. Die Sanitätssoldaten schwankten
mehr als sie gingen, so sehr waren sie übermüdet; nichts war zu sehen von
dem weiß leuchtenden Bettzeug der Photographien. Zugedeckt mit längst
durchgebluteten Kotzen lagen die Leute auf Stroh oder den harten Tragbahren
und in jedem dieser Wagen schon zwei oder drei Tote inmitten der Sterbenden
und Stöhnenden. Ich sprach mit dem Arzt, der, wie er mir gestand, eigentlich
nur Zahnarzt in einem kleinen ungarischen Städtchen gewesen war und seit
Jahren nicht mehr chirurgisch praktiziert hatte. Er war verzweifelt. Nach
sieben Stationen, sagte er mir, habe er schon voraustelegraphiert um
Morphium. Aber alles sei verbraucht, und er habe auch keine Watte mehr,
kein frisches Verbandszeug für die zwanzig Stunden bis ins Budapester Spital.
Er bat mich, ihm zu helfen, denn seine Leute könnten nicht mehr weiter vor
Müdigkeit. Ich versuchte es, ungeschickt wie ich war, konnte mich aber
wenigstens nützlich machen, indem ich bei jeder Station hinauslief und
mithalf, ein paar Eimer Wasser zu tragen, schlechtes, schmutziges Wasser,
eigentlich nur für die Lokomotive bestimmt, jetzt aber doch Labsal, um die
Leute wenigstens ein wenig zu waschen und das ständig niedertropfende Blut
vom Boden wegzuscheuern. Dazu kam noch für die Soldaten, die aus allen
denkbaren Nationalitäten in diesen rollenden Sarg zusammengeworfen
worden waren, eine persönliche Erschwerung durch die babylonische
Verwirrung der Sprachen. Weder der Arzt noch die Pfleger verstanden
ruthenisch oder kroatisch; der einzige, der einigermaßen helfen konnte, war
ein alter, weißhaariger Priester, der – so wie der Arzt verzweifelt war, kein
Morphium zu haben – seinerseits erschüttert klagte, er könne seine heilige
Pflicht nicht tun, es fehle ihm das Öl für die letzte Ölung. In seinem ganzen
Leben habe er nicht so viele Menschen ›versehen‹ wie in diesem einen letzten
Monat. Und von ihm hörte ich das Wort, das ich nie mehr vergessen habe, mit
harter, zorniger Stimme ausgesprochen: »Ich bin siebenundsechzig Jahre alt
und habe viel gesehen. Aber ich habe ein solches Verbrechen der Menschheit
nicht für möglich gehalten.«
Jener Hospitalzug, mit dem ich zurückfuhr, kam in den frühen
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286