Page - 186 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Morgenstunden in Budapest an. Ich fuhr sofort in ein Hotel, um zunächst
einmal zu schlafen; der einzige Sitzplatz in jenem Zuge war mein Koffer
gewesen. Ich schlief bis etwa elf Uhr, übermüdet wie ich gewesen, und zog
mich dann rasch an, ein Frühstück zu nehmen. Aber schon nach den ersten
paar Schritten hatte ich ununterbrochen das Gefühl, ich müßte mir die Augen
reiben, ob ich nicht träume. Es war einer jener strahlenden Tage, die am
Morgen noch Frühling, zu Mittag schon Sommer sind, und Budapest war so
schön und sorglos wie nie. Die Frauen in weißen Kleidern promenierten Arm
in Arm mit Offizieren, die mir plötzlich wie Offiziere aus einer ganz anderen
Armee erschienen als jene, die ich gestern, erst vorgestern gesehen. In den
Kleidern, im Mund, in der Nase noch den Geruch von Jodoform aus dem
Verwundetentransport von gestern, sah ich, wie sie Veilchensträußchen
kauften und den Damen galant verehrten, wie tadellose Autos mit tadellos
rasierten und gekleideten Herren durch die Straßen fuhren. Und all dies acht
oder neun Schnellzugsstunden von der Front! Aber hatte man ein Recht, diese
Menschen anzuklagen? War es nicht eigentlich das Natürlichste, daß sie
lebten und versuchten, sich ihres Lebens zu freuen? Daß sie vielleicht gerade
aus dem Gefühl heraus, daß alles bedroht war, noch alles zusammenrafften,
was zusammenzuraffen war, die paar guten Kleider, die letzten guten
Stunden! Gerade wenn man gesehen, ein wie gebrechliches, zerstörbares
Wesen der Mensch ist, dem ein kleines Stück Blei in einer tausendstel
Sekunde das Leben mit all seinen Erinnerungen und Erkenntnissen und
Ekstasen herausfetzen kann, verstand man, daß ein solcher Korso-Vormittag
an dem leuchtenden Flusse Tausende drängte, Sonne zu sehen, sich selbst zu
fühlen, das eigene Blut, das eigene Leben mit vielleicht noch verstärkter
Kraft. Schon war ich beinahe versöhnt mit dem, was mich zuerst erschreckt
hatte. Aber da brachte unglücklicherweise der gefällige Kellner mir eine
Wiener Zeitung. Ich versuchte sie zu lesen; nun erst überfiel mich der Ekel in
der Form eines richtigen Zorns. Da standen alle die Phrasen von dem
unbeugsamen Siegeswillen, von den geringen Verlusten unserer eigenen
Truppen und den riesigen der Gegner, da sprang sie mich an, nackt, riesenhaft
und schamlos, die Lüge des Krieges! Nein, nicht die Spaziergänger, die
Lässigen, die Sorglosen waren die Schuldigen, sondern einzig die, die mit
ihrem Wort zum Kriege hetzten. Aber schuldig auch wir, wenn wir das unsere
nicht gegen sie wendeten.
Nun erst war mir der richtige Antrieb gegeben: man mußte kämpfen gegen
den Krieg! Der Stoff lag in mir bereit, nur diese letzte anschauliche
Bestätigung meines Instinkts hatte noch gefehlt, um zu beginnen. Ich hatte
den Gegner erkannt, gegen den ich zu kämpfen hatte – das falsche
Heldentum, das lieber die andern vorausschickt in Leiden und Tod, den
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286