Page - 187 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Image of the Page - 187 -
Text of the Page - 187 -
billigen Optimismus der gewissenlosen Propheten, der politischen wie der
militärischen, die, skrupellos den Sieg versprechend, die Schlächterei
verlängern, und hinter ihnen den Chor, den sie sich mieteten, all diese
›Wortemacher des Krieges‹, wie Werfel sie angeprangert in seinem schönen
Gedicht. Wer ein Bedenken äußerte, der störte sie bei ihrem patriotischen
Geschäft, wer warnte, den verhöhnten sie als Schwarzseher, wer den Krieg, in
dem sie selber nicht mitlitten, bekämpfte, den brandmarkten sie als Verräter.
Immer war es dieselbe, die ewige Rotte durch die Zeiten, die die Vorsichtigen
feige nannte, die Menschlichen schwächlich, um dann selbst ratlos zu sein in
der Stunde derKatastrophe, die sie leichtfertig beschworen. Immer war es
dieselbe Rotte, dieselbe, die Kassandra verhöhnt in Troja, Jeremias in
Jerusalem, und nie hatte ich Tragik und Größe dieser Gestalten so verstanden
wie in diesen allzu ähnlichen Stunden. Von Anfang an glaubte ich nicht an
den ›Sieg‹ und wußte nur eines gewiß: daß selbst wenn er unter maßlosen
Opfern errungen werden könnte, er diese Opfer nicht rechtfertige. Aber
immer blieb ich allein unter all meinen Freunden mit solcher Mahnung, und
das wirre Siegesgeheul vor dem ersten Schuß, die Beuteverteilung vor der
ersten Schlacht ließ mich oft zweifeln, ob ich selbst wahnsinnig sei unter all
diesen Klugen oder vielmehr allein grauenhaft wach inmitten ihrer
Trunkenheit. So wurde es nur natürlich für mich, die eigene, die tragische
Situation des ›Defaitisten‹ – dieses Wort hatte man erfunden, um jenen, die
sich um Verständigung bemühten, den Willen zur Niederlage zu
unterschieben – in dramatischer Form zu schildern. Ich wählte als Symbol die
Gestalt des Jeremias, des vergeblichen Warners. Aber es ging mir keineswegs
darum, ein ›pazifistisches‹ Stück zu schreiben, die Binsenwahrheit in Wort
und Verse zu setzen, daß Frieden besser sei als Krieg, sondern darzustellen,
daß derjenige, der als der Schwache, der Ängstliche in der Zeit der
Begeisterung verachtet wird, in der Stunde der Niederlage sich meist als der
einzige erweist, der sie nicht nur erträgt, sondern sie bemeistert. Von meinem
ersten Stück, ›Thersites‹ an hatte mich das Problem der seelischen
Superiorität des Besiegten immer wieder von neuem beschäftigt. Immer
lockte es mich, die innere Verhärtung zu zeigen, die jede Form der Macht in
einem Menschen bewirkt, die seelische Erstarrung, die bei ganzen Völkern
jeder Sieg bedingt, und ihr die aufwühlende, die Seele schmerzhaft und
furchtbar durchpflügende Macht der Niederlage entgegenzustellen. Mitten im
Kriege, indes die andern sich noch, voreilig triumphierend,gegenseitig den
unfehlbaren Sieg bewiesen, warf ich mich schon in den untersten Abgrund
der Katastrophe und suchte den Aufstieg.
Aber unbewußt hatte ich, indem ich ein Thema der Bibel wählte, an etwas
gerührt, das in mir bisher ungenützt gelegen: an die im Blut oder in der
Tradition dunkel begründete Gemeinschaft mit dem jüdischen Schicksal. War
187
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286