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anno 1914-1918 – ich muß es immer wieder betonen – das Weltgewissen eine
umworbene Macht, noch stellten die künstlerisch produktiven, die
moralischen Elemente einer Nation im Kriege eine Kraft dar, die als
einflußreich geachtet wurde, noch bemühten sich die Staaten um menschliche
Sympathien, statt wie Deutschland 1939 mit ausschließlich unmenschlichem
Terror sie zu Boden zu knüppeln. So hatte mein Ansuchen, zur Aufführung
eines Dramas Urlaub in die Schweiz zu erhalten, an sich gute Chancen;
Schwierigkeiten waren höchstens aus dem Grunde zu befürchten, weil es sich
um ein antikriegerisches Drama handelte, in dem ein Österreicher – wenn
auch in symbolischer Form – die Niederlage als denkbar antizipierte. Ich ließ
mich im Ministerium beim Chef der Abteilung melden und trug ihm meinen
Wunsch vor. Zu meinem großen Erstaunen versprach er mir sofort, alles zu
veranlassen, und zwar mit der merkwürdigen Motivierung »Sie haben ja, Gott
sei Dank, nie zu den dummen Kriegsschreiern gehört. Na tun Sie draußen Ihr
Bestes, daß diese Sache einmal zu einem Ende kommt.« Vier Tage später
hatte ich meinen Urlaub und einen Auslandspaß.
Ich war einigermaßen verwundert gewesen, einen der höchsten Beamten
eines österreichischen Ministeriums mitten im Kriege so frei sprechen zu
hören. Aber unvertraut mit den Geheimgängen der Politik, ahnte ich nicht,
daß 1917 unter dem neuen Kaiser Karl in den oberen Kreisen der Regierung
schon leise eine Bewegung eingesetzt hatte, sich von der Diktatur des
deutschen Militärs loszureißen, das Österreich im Schlepptau seines wilden
Annexionismus gegen seinen inneren Willen rücksichtslos weiterschleifte.
Man haßte in unserem Generalstab die brutale Herrischkeit Ludendorffs, man
wehrte sich im Auswärtigen Amt verzweifelt gegen den unbeschränkten
Unterseebootkrieg, der Amerika uns zum Feinde machen mußte, selbst das
Volk murrte über die ›preußische Anmaßung‹. All das drückte sich vorläufig
nur in vorsichtigen Untertönen und scheinbar absichtslosen Bemerkungen
aus. Aber in den nächsten Tagen sollte ich noch mehr erfahren und kam,
früher als die andern, einem der großen politischen Geheimnisse jener Zeit
unvermutet nahe.
Das geschah so: ich hielt mich auf der Reise in die Schweiz zwei Tage in
Salzburg auf, wo ich mir ein Haus gekauft und nach dem Kriege zu wohnen
vorgenommen hatte. In dieser Stadt bestand ein kleiner Kreis streng
katholisch gesinnter Männer, von denen zwei in der Geschichte Österreichs
nach dem Kriege als Kanzler eine entscheidende Rolle spielen sollten,
Heinrich Lammasch und Ignaz Seipel. Der erstere war einer der
hervorragendsten Rechtslehrer seiner Zeit und hatte auf Haager Konferenzen
das Präsidium innegehabt, der andere, Ignaz Seipel, ein katholischer Priester
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286