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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Aktion sei längst nicht mehr im Stadium der Vorbereitung, sondern schon im Gange. Die Idee war kühn, entweder Deutschland durch die Drohung mit einem Separatfrieden für Verhandlungen geneigter zu stimmen oder im Notfall die Drohung durchzuführen; sie war – die Geschichte bezeugte es – die einzige, die letzte Möglichkeit, die damals das Kaiserreich, die Monarchie und damit Europa hätte retten können. Leider entbehrte die Durchführung dann der Entschlossenheit des ursprünglichen Planes. Kaiser Karl sandte den Bruder seiner Frau, den Prinzen Parma, tatsächlich mit einem geheimen Brief an Clemenceau, um ohne vorherige Verständigung des Berliner Hofes die Friedensmöglichkeiten abzuhorchen und eventuell einzuleiten. Auf welche Weise diese geheime Mission zur Kenntnis Deutschlands gelangte, ist, glaube ich, noch nicht völlig aufgeklärt; verhängnisvollerweise hatte Kaiser Karl dann nicht den Mut, öffentlich zu seiner Überzeugung zu stehen, sei es, daß – wie manche behaupten – Deutschland mit einem militärischen Einmarsch in Österreich drohte, sei es, daß er als Habsburger das Odium scheute, ein von Franz Joseph abgeschlossenes und mit so viel Blut besiegeltes Bündnis im entscheidenden Augenblick aufzukündigen. Jedenfalls berief er nicht Lammasch und Seipel, die einzigen, die als katholische Internationalisten aus innerer moralischer Überzeugung die Kraft gehabt hätten, das Odium eines Abfalls von Deutschland auf sich zu nehmen, an den Posten desMinisterpräsidenten, und dies Zögern wurde sein Verderben. Beide sind sie erst in der verstümmelten österreichischen Republik statt im alten Habsburgerreiche Ministerpräsidenten geworden, und doch wäre niemand befähigter gewesen, das scheinbare Unrecht vor der Welt zu verteidigen als diese bedeutenden und angesehenen Persönlichkeiten. Mit einer offenen Drohung des Abfalls oder dem Abfall hätte Lammasch nicht nur Österreichs Existenz gerettet, sondern auch Deutschland vor seiner innersten Gefahr, dem schrankenlosen Annexionsdrang. Es stünde besser um unser Europa, wäre die Aktion, die jener weise und tief religiöse Mann mir damals offen ankündigte, nicht durch Schwäche und Ungeschick verdorben worden. Am nächsten Tage reiste ich weiter und überschritt die Schweizer Grenze. Es ist schwer sich zu vergegenwärtigen, was damals der Übergang von einem versperrten, schon halb ausgehungerten Kriegsland in die neutrale Zone bedeutete. Es waren nur wenige Minuten von einer zur anderen Station, aber in der ersten Sekunde überkam einen schon das Gefühl, als ob man aus stickiger eingesperrter Luft plötzlich in starke und schneegefüllte trete, eine Art Taumel, den man vom Gehirn durch alle Nerven und Sinne weiterrieseln fühlte. Noch nach Jahren, wenn ich, von Österreich kommend, an dieser Bahnstation vorbeireiste (deren Namen mir sonst nie im Gedächtnis geblieben wäre), erneuerte sich blitzhaft die Sensation dieses jähen Aufatmens. Man 193
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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