Page - 193 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Aktion sei längst nicht mehr im Stadium der Vorbereitung, sondern schon im
Gange. Die Idee war kühn, entweder Deutschland durch die Drohung mit
einem Separatfrieden für Verhandlungen geneigter zu stimmen oder im
Notfall die Drohung durchzuführen; sie war – die Geschichte bezeugte es –
die einzige, die letzte Möglichkeit, die damals das Kaiserreich, die Monarchie
und damit Europa hätte retten können. Leider entbehrte die Durchführung
dann der Entschlossenheit des ursprünglichen Planes. Kaiser Karl sandte den
Bruder seiner Frau, den Prinzen Parma, tatsächlich mit einem geheimen Brief
an Clemenceau, um ohne vorherige Verständigung des Berliner Hofes die
Friedensmöglichkeiten abzuhorchen und eventuell einzuleiten. Auf welche
Weise diese geheime Mission zur Kenntnis Deutschlands gelangte, ist, glaube
ich, noch nicht völlig aufgeklärt; verhängnisvollerweise hatte Kaiser Karl
dann nicht den Mut, öffentlich zu seiner Überzeugung zu stehen, sei es, daß –
wie manche behaupten – Deutschland mit einem militärischen Einmarsch in
Österreich drohte, sei es, daß er als Habsburger das Odium scheute, ein von
Franz Joseph abgeschlossenes und mit so viel Blut besiegeltes Bündnis im
entscheidenden Augenblick aufzukündigen. Jedenfalls berief er nicht
Lammasch und Seipel, die einzigen, die als katholische Internationalisten aus
innerer moralischer Überzeugung die Kraft gehabt hätten, das Odium eines
Abfalls von Deutschland auf sich zu nehmen, an den Posten
desMinisterpräsidenten, und dies Zögern wurde sein Verderben. Beide sind
sie erst in der verstümmelten österreichischen Republik statt im alten
Habsburgerreiche Ministerpräsidenten geworden, und doch wäre niemand
befähigter gewesen, das scheinbare Unrecht vor der Welt zu verteidigen als
diese bedeutenden und angesehenen Persönlichkeiten. Mit einer offenen
Drohung des Abfalls oder dem Abfall hätte Lammasch nicht nur Österreichs
Existenz gerettet, sondern auch Deutschland vor seiner innersten Gefahr, dem
schrankenlosen Annexionsdrang. Es stünde besser um unser Europa, wäre die
Aktion, die jener weise und tief religiöse Mann mir damals offen ankündigte,
nicht durch Schwäche und Ungeschick verdorben worden.
Am nächsten Tage reiste ich weiter und überschritt die Schweizer Grenze.
Es ist schwer sich zu vergegenwärtigen, was damals der Übergang von einem
versperrten, schon halb ausgehungerten Kriegsland in die neutrale Zone
bedeutete. Es waren nur wenige Minuten von einer zur anderen Station, aber
in der ersten Sekunde überkam einen schon das Gefühl, als ob man aus
stickiger eingesperrter Luft plötzlich in starke und schneegefüllte trete, eine
Art Taumel, den man vom Gehirn durch alle Nerven und Sinne weiterrieseln
fühlte. Noch nach Jahren, wenn ich, von Österreich kommend, an dieser
Bahnstation vorbeireiste (deren Namen mir sonst nie im Gedächtnis geblieben
wäre), erneuerte sich blitzhaft die Sensation dieses jähen Aufatmens. Man
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286