Page - 198 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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wie man sonst nur Jugendfreundschaften schließt. Aber wir fühlten instinktiv,
daß wir am Anfang eines ganz neuen Lebens standen. Die meisten unserer
alten Beziehungen waren durch die patriotische Verblendung der bisherigen
Kameraden ungültig geworden. Man brauchte neue Freunde, und da wir doch
in der gleichen Front standen, im gleichen geistigen Schützengraben gegen
den gleichen Feind, bildete sich spontan zwischen uns eine Art
leidenschaftlicher Kameradschaft; nach vierundzwanzig Stunden waren wir
einander so vertraut, als ob wir uns seit Jahren gekannt, und gaben uns
bereits, wie es eben an jeder Front üblich ist, das brüderliche Du. Alle spürten
wir – ›we few, we happy few, we band of brothers‹ – mit dem persönlich
Gefährlichen auch das Einmalig-Verwegene unseres Zusammenseins; wir
wußten, daß fünf Stunden weit jeder Deutsche, der einen Franzosen, jeder
Franzose, der einen Deutschen erspähte, ihn mit dem Bajonett anfiel oder mit
der Handgranate zerschmetterte und dafür eine Auszeichnung bekam, daß
Millionen hüben und drüben einzig davon träumten, einander auszurotten und
vom Erdboden zu vertilgen, daß die Zeitungen von den ›Gegnern‹ nur mit
Schaum vor dem Munde sprachen, indes wir, diese einzige Handvoll unter
den Millionen und Millionen, nicht nur friedlich an demselben Tische saßen,
sondern in ehrlichster und sogar in bewußter leidenschaftlicher Brüderschaft.
Wir wußten, in welchen Gegensatz wir uns damit gegen alles Offizielle und
Befohlene stellten, wir wußten, daß wir uns durch die treue Bekundung
unserer Freundschaft persönlich gegenüber unseren Vaterländern in Gefahr
brachten; aber gerade das Wagnis trieb unser Unterfangen zu fast ekstatischen
Steigerungen. Wir wollten doch wagen und wir genossen die Lust dieses
Wagens, denn das Wagnis allein gab unserem Protest wirkliches Gewicht. So
habe ich sogar (ein Unikum in diesem Kriege) mit P. J. Jouve gemeinsam in
Zürich eine öffentliche Vorlesung gehalten – er las französisch seine
Gedichte, ich deutsch aus meinem ›Jeremias‹ –, aber gerade indem wir die
Karten derart offen auflegten, zeigten wir, daß wir ehrlich waren in diesem
verwegenen Spiel. Was man darüber in unseren Konsulaten und
Gesandtschaften dachte, war uns gleichgültig, selbst wenn wir die Schiffe zur
Heimkehr damit vielleicht wie Cortez hinter uns verbrannten. Denn wir waren
in tiefster Seele davon durchdrungen, daß nicht wir die ›Verräter‹ waren,
sondern die andern, welche die menschliche Aufgabe des Dichters an die
zufällige Stunde verrieten. Und wie heroisch sie lebten, diese jungen
Franzosen und Belgier! Da war Frans Masereel, der mit seinen Holzschnitten
gegen die Greuel des Krieges vor unsern Augen das überdauernde
zeichnerische Denkmal des Krieges schnitt, diese unvergeßlichen Blätter in
Schwarz und Weiß, die an Wucht und Zorn selbst hinter Goyas ›Desastros de
la guerra‹ nicht zurückstehen. Tag und Nacht schnitt dieser männliche Mann
unermüdlich neue Gestalten und Szenen aus dem stummen Holz, das enge
Zimmer und die Küche waren schon vollgehäuft mit diesen Holzblöcken, aber
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286