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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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wie man sonst nur Jugendfreundschaften schließt. Aber wir fühlten instinktiv, daß wir am Anfang eines ganz neuen Lebens standen. Die meisten unserer alten Beziehungen waren durch die patriotische Verblendung der bisherigen Kameraden ungültig geworden. Man brauchte neue Freunde, und da wir doch in der gleichen Front standen, im gleichen geistigen Schützengraben gegen den gleichen Feind, bildete sich spontan zwischen uns eine Art leidenschaftlicher Kameradschaft; nach vierundzwanzig Stunden waren wir einander so vertraut, als ob wir uns seit Jahren gekannt, und gaben uns bereits, wie es eben an jeder Front üblich ist, das brüderliche Du. Alle spürten wir – ›we few, we happy few, we band of brothers‹ – mit dem persönlich Gefährlichen auch das Einmalig-Verwegene unseres Zusammenseins; wir wußten, daß fünf Stunden weit jeder Deutsche, der einen Franzosen, jeder Franzose, der einen Deutschen erspähte, ihn mit dem Bajonett anfiel oder mit der Handgranate zerschmetterte und dafür eine Auszeichnung bekam, daß Millionen hüben und drüben einzig davon träumten, einander auszurotten und vom Erdboden zu vertilgen, daß die Zeitungen von den ›Gegnern‹ nur mit Schaum vor dem Munde sprachen, indes wir, diese einzige Handvoll unter den Millionen und Millionen, nicht nur friedlich an demselben Tische saßen, sondern in ehrlichster und sogar in bewußter leidenschaftlicher Brüderschaft. Wir wußten, in welchen Gegensatz wir uns damit gegen alles Offizielle und Befohlene stellten, wir wußten, daß wir uns durch die treue Bekundung unserer Freundschaft persönlich gegenüber unseren Vaterländern in Gefahr brachten; aber gerade das Wagnis trieb unser Unterfangen zu fast ekstatischen Steigerungen. Wir wollten doch wagen und wir genossen die Lust dieses Wagens, denn das Wagnis allein gab unserem Protest wirkliches Gewicht. So habe ich sogar (ein Unikum in diesem Kriege) mit P. J. Jouve gemeinsam in Zürich eine öffentliche Vorlesung gehalten – er las französisch seine Gedichte, ich deutsch aus meinem ›Jeremias‹ –, aber gerade indem wir die Karten derart offen auflegten, zeigten wir, daß wir ehrlich waren in diesem verwegenen Spiel. Was man darüber in unseren Konsulaten und Gesandtschaften dachte, war uns gleichgültig, selbst wenn wir die Schiffe zur Heimkehr damit vielleicht wie Cortez hinter uns verbrannten. Denn wir waren in tiefster Seele davon durchdrungen, daß nicht wir die ›Verräter‹ waren, sondern die andern, welche die menschliche Aufgabe des Dichters an die zufällige Stunde verrieten. Und wie heroisch sie lebten, diese jungen Franzosen und Belgier! Da war Frans Masereel, der mit seinen Holzschnitten gegen die Greuel des Krieges vor unsern Augen das überdauernde zeichnerische Denkmal des Krieges schnitt, diese unvergeßlichen Blätter in Schwarz und Weiß, die an Wucht und Zorn selbst hinter Goyas ›Desastros de la guerra‹ nicht zurückstehen. Tag und Nacht schnitt dieser männliche Mann unermüdlich neue Gestalten und Szenen aus dem stummen Holz, das enge Zimmer und die Küche waren schon vollgehäuft mit diesen Holzblöcken, aber 198
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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