Page - 199 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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jeden Morgen brachte die ›Feuille‹ eine andere seiner zeichnerischen
Anklagen, keine eine bestimmte Nation anklagend, alle nur denselben, unsern
gemeinsamen Gegner: den Krieg. Wie träumten wir davon, daß man von
Aeroplanen als Flugblätter diese jedem, auch dem geringsten Mann ohne
Wort, ohne Sprache verständlichen grimmigen, grausigen Anprangerungen
statt Bomben in die Städte und Armeen werfen könnte; sie hätten, ich bin
dessen gewiß, den Krieg vorzeitig getötet. Aber leider erschienen sie nur in
dem kleinen Blättchen ›La Feuille‹, das kaum über Genf hinausdrang. Alles
was wir sagten und versuchten, war im engen Schweizer Kreis verkerkert und
kam erst zur Wirkung, da es zu spät war. Im geheimen täuschten wir uns
darüber nicht, daß wir machtlos waren gegen die große Maschine der
Generalstäbe und politischen Ämter, und wenn sie uns nicht verfolgten, so
war es vielleicht deshalb, weil wir ihnen nicht gefährlich werden konnten,
erstickt wie unser Wort, gehemmt wie unsere Wirkung blieb. Aber gerade,
daß wir wußten, wie wenige, wie allein wir waren, drängte uns enger
zusammen Brust an Brust, Herz an Herz. Nie mehr in reiferen Jahren habe ich
so enthusiastische Freundschaft empfunden wie in jenen Stunden in Genf, und
die Bindung hat allen späteren Zeiten standgehalten.
Vom psychologischen und historischen Standpunkt aus (nicht vom
künstlerischen) war die merkwürdigste Figur dieser Gruppe Henri Guilbeaux;
an seiner Person habe ich überzeugender als an jeder anderen das
unumstößliche Gesetz der Geschichte bestätigt gesehen, daß in Epochen jäher
Umstürze, insbesondere während eines Krieges oder einer Revolution Mut
und Verwegenheit oft für eine kurze Frist mehr gelten als innere Bedeutung,
und hitzige Zivilcourage entscheidender sein kann als Charakter und
Stetigkeit. Immer wenn die Zeit rasch vorwärtsstürzt und sich überstürzt,
gewinnen Naturen, die es verstehen, ohne jedes Zögern sich in die Welle zu
werfen, den Vorsprung. Und wie viele eigentlich ephemere Gestalten hat sie
über sich selbst hinausgetragen damals, Bela Kun, Kurt Eisner, bis an eine
Stelle, der sie innerlich nicht gewachsen waren! Giulbeaux, ein schmächtiges,
blondes Männchen mit scharfen, unruhigen grauen Augen und einer lebhaften
Suada, war an sich nicht begabt. Obwohl er es gewesen, der meine Gedichte
fast ein Jahrzehnt früher schon ins Französische übertragen, muß ich
ehrlicherweise seine literarischen Fähigkeiten unbedeutend nennen. Seine
Sprachkraft reichte nicht über die Mittelmäßigkeit hinaus, seine Bildung
nirgends in die Tiefe. All seine Kraft lag in der Polemik. Er gehörte aus einer
unglücklichen Anlage seines Charakters zu jenen Menschen, die immer
›dagegen‹ sein müssen, gleichgültig eigentlich, wogegen. Ihm war nur wohl,
wenn er als echter Gamin sich herumschlagen konnte und gegen irgend etwas
anrennen, das stärker war als er selbst. In Paris hatte er vor dem Kriege,
obwohl er im Grunde ein gutmütiger Bursche war, in der Literatur unablässig
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286