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gegen einzelne Richtungen und Leute herumpolemisiert, dann in den
radikalen Parteien sich umgetan, und keine war ihm radikal genug gewesen.
Nun, im Kriege, hatte er plötzlich als Antimilitarist einen gigantischen
Gegner gefunden: den Weltkrieg. Die Ängstlichkeit, die Feigheit der meisten,
andererseits wieder die Verwegenheit, die Tollkühnheit, mit der er sich in den
Kampf warf, machten ihn für einen Weltaugenblick wichtig und sogar
unentbehrlich. Ihn lockte gerade, was die andern schreckte: die Gefahr. Daß
die andern so wenig wagten und er allein soviel, das gab diesem an sich
unbedeutenden Literaten eine plötzliche Größe und steigerte seine
publizistischen, seine kämpferischen Fähigkeiten über ihr natürliches Niveau
– ein Phänomen, das man ebenso in der Französischen Revolution bei den
kleinen Advokaten und Juristen der Gironde beobachten konnte. Während die
andern schwiegen, während wir selber zögerten und bei jedem Anlaß
sorgfältig überlegten, was zu tun und zu unterlassen, griff er entschlossen zu,
und es wird Guilbeaux’ dauerndes Verdienst bleiben, die einzige geistig
bedeutsame Antikriegszeitschrift des ersten Weltkrieges, ›Demain‹, gegründet
und geleitet zu haben, ein Dokument, das jeder nachlesen muß, der die
geistigen Strömungen jener Epoche wirklich verstehen will. Er gab, was wir
brauchten: ein Zentrum der internationalen, der übernationalen Diskussion
mitten im Krieg. Daß Rolland sich hinter ihn stellte, entschied die Bedeutung
der Zeitschrift, denn dank seiner moralischen Autorität und seiner
Verbindungen konnte er ihm die wertvollsten Mitarbeiter aus Europa,
Amerika und Indien bringen; anderseits gewannen die damals noch aus
Rußland exilierten Revolutionäre Lenin, Trotzkij und Lunartscharskij zu
Guilbeaux’ Radikalität Vertrauen und schrieben regelmäßig für ›Demain‹. So
gab es in der Welt für zwölf oder zwanzig Monate keine interessantere, keine
unabhängigere Zeitschrift, und wenn sie den Krieg überdauert hätte, wäre sie
vielleicht entscheidend für die Beeinflussung der öffentlichen Meinung
geworden. Gleichzeitig übernahm Guilbeaux in der Schweiz die Vertretung
der radikalen Gruppen in Frankreich, denen Clemenceaus harte Hand das
Wort geknebelt. Auf den berühmten Kongressen von Kienthal und
Zimmerwald, wo sich die international gebliebenen Sozialisten von den
patriotisch gewordenen absonderten, spielte er eine historische Rolle; kein
Franzose, nicht einmal jener Hauptmann Sadoul, der in Rußland zu den
Bolschewisten übergegangen war, wurde in den Pariser politischen und
militärischen Kreisen während des Krieges so gefürchtet und gehaßt wie dies
kleine blonde Männchen. Endlich gelang es dem französischen Spionagebüro,
ihm ein Bein zu stellen. In einem Hotel in Bern wurden aus dem Zimmer
eines deutschen Agenten Löschblätter und Kopien gestohlen, die freilich
nicht mehr erwiesen, als daß deutsche Stellen einige Exemplare von ›Demain‹
abonniert hatten – an sich eine unschuldige Tatsache, da diese Exemplare
wahrscheinlich bei der deutschen Gründlichkeit für die verschiedenen
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286