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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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dampfender Form begegnet als in diesen Züricher Tagen oder vielmehr Nächten (denn man diskutierte, bis das Café Bellevue oder das Café Odeon die Lichter auslöschte und ging dann noch oft einer zum andern in die Wohnung). Keiner sah in dieser bezauberten Welt mehr die Landschaft, die Berge, die Seen und ihren milden Frieden; man lebte in Zeitungen, in Nachrichten und Gerüchten, in Meinungen, in Auseinandersetzungen. Und sonderbar: man lebte geistig den Krieg hier eigentlich intensiver mit als in der kriegführenden Heimat, weil sich das Problem gleichsam objektiviert und vom nationalen Interesse an Sieg oder Niederlage völlig losgelöst hatte. Man sah ihn von keinem politischen Standpunkt mehr, sondern vom europäischen als ein grausames und gewaltiges Geschehnis, das nicht nur ein paar Grenzlinien auf der Landkarte, sondern Form und Zukunft unserer Welt verwandeln sollte. Die ergreifendsten unter diesen Menschen waren für mich – als ob mich schon eine Ahnung zukünftigen eigenen Schicksals berührt hätte – die Menschen ohne Heimat oder schlimmer noch: die statt eines Vaterlandes zwei oder drei hatten und innerlich nicht wußten, zu welchem sie gehörten. Da saß meist allein in einer Ecke des Café Odeon ein junger Mann mit einem kleinen braunen Bärtchen, auffallend dicke Brillen vor den scharfen dunklen Augen; man sagte mir, daß es ein sehr begabter englischer Dichter sei. Als ich nach einigen Tagen James Joyce dann kennenlernte, lehnte er schroff jede Zusammengehörigkeit mit England ab. Er sei Ire. Er schreibe zwar in englischer Sprache, aber er denke nicht englisch und wolle nicht englisch denken – »ich möchte«, sagte er mir damals, »eine Sprache, die über den Sprachen steht, eine Sprache, der sie alle dienen. In Englisch kann ich mich nicht ganz ausdrücken, ohne mich damit in eine Tradition einzuschließen.« Mir war das nicht ganz klar, denn ich wußte nicht, daß er damals schon an seinem ›Ulysses‹ schrieb; er hatte mir nur sein Buch ›Portrait of an artist as a young man‹ geliehen, das einzige Exemplar, das er besaß, und sein kleines Drama ›Exiles‹, das ich damals sogar übersetzen wollte, um ihm zu helfen. Je mehr ich ihn kennenlernte, desto mehr setzte er mich durch seine phantastische Sprachkenntnis in Erstaunen; hinter dieser runden, fest gehämmerten Stirn, die im elektrischen Licht wie Porzellan glatt glänzte, waren alle Vokabeln aller Idiome eingestanzt, und er spielte sie in brillantester Weise durcheinander. Einmal als er mich fragte, wie ich einen schwierigen Satz in ›Portrait of an artist‹ deutsch wiedergeben würde, versuchten wir die Formung zusammen in Italienisch und Französisch; er hatte für jedes Wort vier oder fünf in jedem Idiom parat, selbst die dialektischen, und wußte ihren Valeur, ihr Gewicht bis in die kleinste Nuance. Eine gewisse Bitterkeit wich selten von ihm, aber ich glaube, es war eigentlich diese Gereiztheit, gerade 203
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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