Page - 203 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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dampfender Form begegnet als in diesen Züricher Tagen oder vielmehr
Nächten (denn man diskutierte, bis das Café Bellevue oder das Café Odeon
die Lichter auslöschte und ging dann noch oft einer zum andern in die
Wohnung). Keiner sah in dieser bezauberten Welt mehr die Landschaft, die
Berge, die Seen und ihren milden Frieden; man lebte in Zeitungen, in
Nachrichten und Gerüchten, in Meinungen, in Auseinandersetzungen. Und
sonderbar: man lebte geistig den Krieg hier eigentlich intensiver mit als in der
kriegführenden Heimat, weil sich das Problem gleichsam objektiviert und
vom nationalen Interesse an Sieg oder Niederlage völlig losgelöst hatte. Man
sah ihn von keinem politischen Standpunkt mehr, sondern vom europäischen
als ein grausames und gewaltiges Geschehnis, das nicht nur ein paar
Grenzlinien auf der Landkarte, sondern Form und Zukunft unserer Welt
verwandeln sollte.
Die ergreifendsten unter diesen Menschen waren für mich – als ob mich
schon eine Ahnung zukünftigen eigenen Schicksals berührt hätte – die
Menschen ohne Heimat oder schlimmer noch: die statt eines Vaterlandes zwei
oder drei hatten und innerlich nicht wußten, zu welchem sie gehörten. Da saß
meist allein in einer Ecke des Café Odeon ein junger Mann mit einem kleinen
braunen Bärtchen, auffallend dicke Brillen vor den scharfen dunklen Augen;
man sagte mir, daß es ein sehr begabter englischer Dichter sei. Als ich nach
einigen Tagen James Joyce dann kennenlernte, lehnte er schroff jede
Zusammengehörigkeit mit England ab. Er sei Ire. Er schreibe zwar in
englischer Sprache, aber er denke nicht englisch und wolle nicht englisch
denken – »ich möchte«, sagte er mir damals, »eine Sprache, die über den
Sprachen steht, eine Sprache, der sie alle dienen. In Englisch kann ich mich
nicht ganz ausdrücken, ohne mich damit in eine Tradition einzuschließen.«
Mir war das nicht ganz klar, denn ich wußte nicht, daß er damals schon an
seinem ›Ulysses‹ schrieb; er hatte mir nur sein Buch ›Portrait of an artist as a
young man‹ geliehen, das einzige Exemplar, das er besaß, und sein kleines
Drama ›Exiles‹, das ich damals sogar übersetzen wollte, um ihm zu helfen. Je
mehr ich ihn kennenlernte, desto mehr setzte er mich durch seine
phantastische Sprachkenntnis in Erstaunen; hinter dieser runden, fest
gehämmerten Stirn, die im elektrischen Licht wie Porzellan glatt glänzte,
waren alle Vokabeln aller Idiome eingestanzt, und er spielte sie in brillantester
Weise durcheinander. Einmal als er mich fragte, wie ich einen schwierigen
Satz in ›Portrait of an artist‹ deutsch wiedergeben würde, versuchten wir die
Formung zusammen in Italienisch und Französisch; er hatte für jedes Wort
vier oder fünf in jedem Idiom parat, selbst die dialektischen, und wußte ihren
Valeur, ihr Gewicht bis in die kleinste Nuance. Eine gewisse Bitterkeit wich
selten von ihm, aber ich glaube, es war eigentlich diese Gereiztheit, gerade
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286