Page - 209 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Autor des ›Jeremias‹ – die Verantwortung, man müßte eigentlich mithelfen
durch sein Wort, die Niederlage zu überwinden. Überflüssig während des
Krieges, schien ich mir nun nach der Niederlage an der richtigen Stelle, zumal
ich mir durch meinen Widerstand gegen die Kriegsverlängerung eine gewisse
moralische Stellung insbesondere bei der Jugend erworben hatte. Und selbst
wenn man nichts zu leisten vermochte, blieb wenigstens die Genugtuung,
mitzuleiden an dem allgemeinen Leiden, das man vorausgesagt.
Eine Fahrt nach Österreich erforderte damals Vorbereitungen wie eine
Expedition in ein arktisches Land. Man mußte sich ausrüsten mit warmen
Kleidern und Wollwäsche, denn man wußte, daß jenseits der Grenze keine
Kohle vorhanden war, – und der Winter stand vor der Türe. Man ließ sich die
Schuhe sohlen, denn drüben gab es nur Holzsohlen. Man nahm Vorräte und
Schokolade mit, soviel die Schweiz verstattete, um nicht zu verhungern, bis
die ersten Brot- und Fettkarten einem zugeteilt würden. Man versicherte sein
Gepäck, so hoch es nur ging, denn die meisten Gepäckwagen wurden
geplündert, und jeder Schuh, jedes Kleidungsstück war unersetzbar; nur als
ich zehn Jahre später einmal nach Rußland reiste, habe ich ähnliche
Vorbereitungen getroffen. Einen Augenblick stand ich noch unschlüssig in der
Grenzstation Buchs, in die ich vor mehr als einem Jahr so beglückt
eingefahren, und fragte mich, ob ich nicht doch lieber im letzten Augenblick
noch umkehren sollte. Es war, ich fühlte es, eine Entscheidung in meinem
Leben. Aber schließlich entschloß ich mich zum Schweren und
Schwierigeren. Ich bestieg wieder den Zug.
Bei meiner Ankunft vor einem Jahre hatte ich an der schweizerischen
Grenzstation in Buchs eine aufregende Minute erlebt. Jetzt bei der Rückkehr
stand mir eine nicht minder unvergeßliche an der österreichischen in
Feldkirch bevor. Schon beim Aussteigen hatte ich eine merkwürdige Unruhe
bei den Grenzbeamten und Polizisten wahrgenommen. Sie achteten nicht
besonders auf uns und erledigten höchst lässig die Revision: offenbar
warteten sie auf etwas Wichtigeres. Endlich kam der Glockenschlag, der das
Nahen eines Zuges von der österreichischen Seite ankündigte. Die Polizisten
stellten sich auf, alle Beamten eilten aus ihren Verschlägen, ihre Frauen
offenbar verständigt, drängten sich auf dem Perron zusammen; insbesondere
fiel mir unter den Wartenden eine alte Dame in Schwarz mit ihren beiden
Töchtern auf, nach ihrer Haltung und Kleidung vermutlich eine Aristokratin.
Sie war sichtlich erregt und fuhr immer wieder mit dem Taschentuch an ihre
Augen.
Langsam, ich möchte fast sagen, majestätisch rollte der Zug heran, ein Zug
besonderer Art, nicht die abgenutzten, vom Regen verwaschenen
gewöhnlichen Passagierwaggons, sondern schwarze, breite Wagen, ein
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286